Die Kinder der Shoah ✡ Mit ihren Augen gesehen …

Die Kinder der Shoah ✡ Mit ihren Augen gesehen …

 

Über die Themenvielfalt der Shoah zu schreiben ist oftmals eine schwere emotionale Last, die nur durch Sachlichkeit kompensiert werden kann, jedenfalls bei mir. Doch über die Leiden der Kinder in der Zeit des Holocausts zu schreiben verlangt einem sehr viel ab, auch dem Leser. Auch wenn wir uns dem entziehen wollten, so werden wir immer wieder darauf gestoßen, wenn wir lesen, dass ‚ganze Familien ausgemerzt’ wurden. Solche Familien bestehen auch aus Kindern und um diese geht es heute: In Europa wurden 9 von 10 jüdischen Kindern im Holocaust ermordet. Es waren ungefähr 1,5 Millionen getötete jüdische Kinder, Kinder von Roma und Sinti, behinderte Kinder und  andere Kinder, die unter dem Regime der Nazis bestialisch ermordet wurden. Bereits nachdem das Hitler-Regime die diktatorische ‚Macht’ im Staate innehatte, bemerkten auch die Kinder, dass die Welt um sie herum sich änderte. Väter, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen durften; Freunde oder Nachbarn, die das Land verlassen wollten oder auch sie selbst wurden mit Situationen konfrontiert, die ihr Leben auf den Kopf stellten. Sie mussten ihre bisherige Schule verlassen, ab November 1938, durften nicht mehr Fahrradfahren, wann sie wollten und sie konnten ihre Freunde nicht mehr sehen, denn manche wandten sich von ihnen ab, andere zogen ohne Worte des Abschieds einfach weg. Ein normaler Schwimmbadbesuch war im Sommer nicht mehr möglich und öffentliche Verkehrsmittel waren dann auch nicht mehr für sie zugänglich. Auch wenn der Radius von Kindern und Jugendlichen weitaus geringer ist, als der von Erwachsenen, so wurde ihr gesunder Aktionsradius brutal beschnitten.

Nicht nur der ermordeten Kinder ist zu erinnern, auch der Kinder, die zwar physisch überlebten, deren Seele sich aber tot stellen musste um auch emotional zu überleben.

Das ist Eva Heyman. Sie wurde am 13. Februar 1931 in Ungarn geboren und wuchs bei ihrer Mutter Agi auf. Eva war ein sensibles, humorvolles Mädchen. Sie war lebenslustig und liebte es, Pläne für ihre Zukunft zu schmieden. Zu ihrem 13. Geburtstag bekam Eva ein Tagebuch, dem sie sich in den folgenden dreieinhalb Monaten anvertraute. In einem ihrer ersten Einträge im Februar 1944 erinnert sich Eva an einen Ausflug, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter Agi unternommen hat:  

„Ich werde nie vergessen, wie ängstlich Agi bei allem war im Englischen Park, vor allem bei der Achterbahn… Aber im Zoo hatte sie genauso viel Spaß wie ich. Wir sind auch in das Kindertheater gegangen. Dann machten wir eine Nachmittagspause, Schokolade mit Schlagsahne und Erdbeeren mit Sahne…“ 

Evas Kindheit endete ganz abrupt, als die Deutschen im Jahr 1944 in Ungarn einfielen und ihre Heimatstadt Nagyvarad besetzten. Eva war damals 13 Jahre alt. 

„Liebes Tagebuch, du bist das Glücklichste auf der Welt, weil du nicht fühlen kannst, du kannst nicht wissen, welche schreckliche Sache uns passiert ist. Die Deutschen sind gekommen!…“ Freilich konnte die Dreizehnjährige nicht wissen, was genau es für sie bedeuten würde, als jüdisches Mädchen unter der Besetzung durch NS-Deutschland leben zu müssen. Ihrem Tagebuch vertraut sie ihre bösen Vorahnungen an, ihren Humor gibt sie dabei nicht auf:  „Aber hier wird nicht eher wieder Ruhe einkehren, bis Hitler tot ist, und in der Wochenschau und in den Filmen habe ich gesehen, dass er sehr gut aussieht. Dieser Mann wird nicht so schnell sterben.“ „Jeden Tag bringen sie neue Gesetze gegen Juden heraus. Heute zum Beispiel haben sie uns alle Geräte weggenommen: die Nähmaschine, das Radio, das Telefon, den Staubsauger, die elektrische Fritteuse, meine Kamera, und mein Fahrrad… Agi sagte, wir sollten froh sein, dass sie Sachen nehmen und nicht Menschen.“ 

Ihr Fahrrad hatte Eva erst seit kurzem. Die Familie hatte lange gespart, und Evas altes Fahrrad und der Wintermantel ihres Opas mussten verkauft werden, um schließlich die nötige Summe zusammen zu bringen. Eva holte ihr nagelneues Rad nicht eher ab, als bis der vollständige Preis in bar bezahlt worden war. Danach brachte sie das Fahrrad nach Hause, aber sie fuhr es nicht, sondern schob es, oder, in ihrer eigenen Beschreibung, sie führte es, „wie man einen großen, schönen Hund führt“. Das Fahrrad bekam auch einen Namen: „Freitag“. Eva hatte das Buch „Robinson Crusoe“ gelesen und wollte mit dem Namen ausdrücken, dass ihr Fahrrad „Freitag“ seiner Besitzerin, Eva „Robinson“ immer treu dienen würde. Außerdem war es ein Freitag, an dem Eva das Fahrrad nach Hause brachte. Jetzt verstehen wir auch, warum Eva nicht ruhig bleiben konnte, als die Deutschen kamen, um ihr Fahrrad zu beschlagnahmen. Ihrem Tagebuch vertraut sie an, wofür sie sich später ein wenig schämt und von ihrer Mutter zurechtgewiesen wird: 

„Also, liebes Tagebuch, ich habe mich auf den Boden geworfen, das Hinterrad meines Fahrrads umklammert und schrie alles Mögliche zu den Polizisten. ‚Schämt euch, einem Mädchen das Fahrrad wegzunehmen! Das ist Raub!’“ 

Eva wurde in Auschwitz ermordet, ihr Tagebuch berichtet von ihren Erlebnissen.

Yitzkhok Rudashevski lebte in der polnischen Stadt Wilna, die später unter sowjetische Besetzung geriet. 1939 fiel die deutsche Armee in Polen ein und begann mit der erbarmungslosen Verfolgung der dort lebenden Juden. Yitzkhok hatte gerade sein erstes Jahr in einem angesehenen Gymnasium abgeschlossen, wo er in allen Fächern brillante Leistungen erzielt hatte. Seine Lieblingsfächer waren Literatur und Geschichte. Auf diesem Bild sehen wir Yitzkhok, 15 Jahre alt, auf dem Weg zur Schule.

 „Ich weiß, dass ich niemanden dort treffen werde. Trotzdem, ich gehe auf alle Fälle zur Schule. Alles ist viel zu plötzlich passiert. Es ist kaum zu begreifen, dass tatsächlich alles zu einem kompletten Stillstand gekommen ist. Ich gehe auf die Schule zu. Die Schule ist mit Siegeln verschlossen.“

Hannah Gofrith lebt heute in Tel Aviv, einer Stadt an der Küste Israels. Geboren wurde sie in Polen. Als sie sechs Jahre alt war, hatten die Deutschen bereits ihre Heimatstadt besetzt. Sie erinnert sich an ihren ersten Schultag:  „Guten Morgem“, grüßte ich den Schuldiener. „Wohin willst du?“, fragte er. „Zur Schule, in die erste Klasse“, antwortete ich stolz im Vorbeigehen. Der Mann stellte sich mir in den Weg. „Das geht nicht!“, sagte er. „Aber ich bin schon sechs Jahre alt, wirklich…“ „Du bist eine Jüdin“, entgegnete er, „Juden haben kein Recht, zu lernen. In dieser Schule ist kein Platz für Juden.“ Ich sah mich um. …Die anderen Kinder standen da und hörten zu. Die Schulglocke läutete. Alle liefen zu ihren Klassen. Ich drehte mich um und schlich langsam den Schulzaun entlang. Ich stand allein auf der Straße, und meine Hände umklammerten den Zaun. (…) Ich weinte nicht! Ich verstand. Ich bin eine Jüdin und in dieser Schule ist kein Platz für mich. Ich stand dort, bis auch der letzte Schüler den Hof verlassen hatte. Das Schuljahr fing an. Aber nicht für mich. Ich kehrte nach Hause zurück. Meine Mutter begrüßte mich lächelnd und fragte: „Haneczka, wo warst du?“ „Ach, nur draußen. Ich war spazieren“, antwortete ich. „Komm“, sagte Mama, „Dein erstes Schuljahr beginnt heute. Deine Bücher warten schon auf dich.“ Sie betrat mit mir das Zimmer. Papa stand dort. Auf dem Tisch lag ein Stapel von Büchern und Heften. Er lächelte mich an, drückte meine Hand und sagte: „Ich gratuliere dir zum ersten Schultag, Haneczka. Heute beginnt der Unterricht in „Unserer Schule“. Viel Glück beim Lernen!“ Papa und Mama waren meine Lehrer in „Unserer Schule“. Sie waren es, die mir Lesen und Schreiben beibrachten.

Von Yitskhok aus Litauen, damals 14 Jahre alt, erfahren wir: 

„Es wurde eine Anordnung für die jüdische Bevölkerung von Wilna erlassen, sich vorne und hinten zu kennzeichnen, ein gelber Kreis mit dem Buchstaben J in der Mitte… Ich habe mich geschämt, damit auf die Straße zu gehen, nicht, weil man dann sieht, dass ich ein Jude bin, sondern weil ich mich dafür geschämt habe, was man uns antut. Ich habe mich für unsere Hilflosigkeit geschämt. Wir werden von Kopf bis Fuß mit Kennzeichen behängt und haben keine Möglichkeit, uns gegenseitig zu helfen. Es hat mich verletzt, dass ich absolut keinen Ausweg sehen konnte.“

Dieses kleine Gedicht hat Anna Lindtova in Theresienstadt geschrieben. Sie war 12 Jahre alt, als sie dort ankam.

Unsere Welt in tausend Jahren

„Ich wünsche mir, dass in tausend Jahren sich kein Kind mehr dafür schämen muss, dass es anders ist.“

„Ich wünsche mir, dass in tausend Jahren Kinder, die lernen wollen, nicht vor verschlossenen Türen stehen.“

„Ich wünsche mir, dass in tausend Jahren Kinder keine Angst mehr haben müssen.“

„Ich wünsche mir, dass in tausend Jahren Kinder wie Eva ihre Pläne verwirklichen können.“

„Ich wünsche mir, dass in tausend Jahren…“

Die 14jährige Mascha aus Litauen fragt sich: „Kann es sein, dass die Besetzer uns nicht mehr als Menschen betrachten und wie Vieh kennzeichnen? Eine solche Gemeinheit kann man nicht hinnehmen. Aber wer wagt es, sich ihnen zu widersetzen?“

Der Wunsch von Abraham Koplowicz, er wurde im Jahr 1930 geboren,  die ganze Welt im Flug zu bereisen, konnte er nicht wahr machen. Abraham wurde mit 14 Jahren in Auschwitz ermordet.

 

Ein Traum

 

Wenn ich groß bin, werde ich diese schöne Welt sehen
In einem riesigen Vogel ganz aus Eisen sitzend
Werde ich die Höhen des Universums durchqueren
Über dem Wasser: Fluss, Meer und Ozean.
Die Wolke wird mir Schwester sein und der Wind Bruder
Ich werde die Sphinxen sehen und die Pyramiden
Auf der so alten Erde der Göttin Isis
Ich werde die Unermesslichkeit des Niagara durchqueren
Und mich in der Sonne der Sahara baden.

 

Quer über die Berge des Tibet, die sich in den Wolken verlieren
Über das schöne Geheimnis der Lama-Zauberer…
Dann werde ich die anstrengende Hitze verlassen
Für die Gletscher des Nordens
Ich werde über den Inseln der Känguruhs vorbeikommen,
Über den Ruinen von Pompeji.

 

Über der Heiligen Erde des Alten Testaments
Über dem Land des berühmten Homer
Immer gleichermaßen verzaubert von der Schönheit der Welt
Die Wolke wird mir Schwester sein und der Wind Bruder.

 

 

Es ist schier unmöglich, der eineinhalb Millionen Kinder so zu gedenken, um jedem wahrlich gerecht zu werden. Diese Zahl ist zu monströs, buchstäblich unfassbar. Doch halten wir nur einen Moment inne und denken wir an all diese Kinder, die keine Zukunft haben durften.

 

… und übernehmen wir Veranwortung, dass Kindern solches nie wieder ertragen müssen …

 

Alle Zitate wurden aus folgenden drei Büchern entnommen:  Noa Barbara Nussbaum: Für uns kein Ausweg. Jüdische Kinder und Jugendliche in ihren Schrift- und Bildzeugnissen aus der Zeit der Shoah. Universitätsverlag WINTER. Heidelberg, 2004.  Naomi Morgenstern: Gern wäre ich geflogen – wie ein Schmetterling. Erinnerungen an eine Kindheit während des Holocaust. Jerusalem, 2000.  Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem, 2009.

Skulptur „Die Kinder von Lidice“ von Mark Frantz – veröffentlicht mir Genehmigung des Künstlers – Quelle: fofokommunity.de – Foto unten: Kinder + Shoah – Quelle: jcrealions.net  

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