Die Inbetriebnahme der vier neuen Krematoriumsanlagen zwischen März und Juli 1943 leitete eine neue Epoche in der Geschichte des Sonderkommandos von Auschwitz ein. Für die in der „Todesfabrik“ zwangsbeschäftigten jüdischen Häftlinge bedeutete sie nicht nur eine Intensivierung des Arbeitsprozesses, sondern auch eine schrittweise Radikalisierung und Ausweitung der Vernichtung und Zuspitzung der Sonderkommando-Tragödie. Bevor sich Widerstand ernsthaft organisieren konnte, mussten sich die Häftlinge im Mikrokosmos Todeszone und dem Alltag der Mordfabrik erst einmal orientiert haben. Dies war allerdings erst möglich, nachdem sie den ersten Zugangsschock überwunden sowie den Leichenschock und schließlich die Einarbeitungsphase überstanden hatten. So konnten nach einiger Zeit die bestehenden Strukturen durch die Einweisung polnischer Juden, die bereits langjährige Erfahrung in kommunistischer Untergrundarbeit erworben hatten und am 4. März 1943 mit dem 49. Transport des Reichssicherheitshauptamts aus Drancy eingeliefert wurden, verbessert werden. Über die Arbeit des Sonderkommandos wurde in einem anderen Artikel bereits ausführlicher berichtet, doch müssen bei all dem nicht nur die Bedingengen im Vernichtungslager Auschwitz betrachtet werden, sondern auch die psychische Belastung der Häftlinge im Sonderkommando. Sie mussten den Ankommenden beim Auskleiden helfen, was häufig die Schamgrenze der Menschen überschritt; hinzu kommt, dass sie beruhigend auf die Häftlinge einwirkten, völlig gegen ihre Überzeugung und ihr Wissen.
Wenige Männer des Sonderkommandos haben überlebt, physisch überlebt. Psychisch hat sich wohl keiner erholen können.
„Man kommt nie mehr wirklich aus dem Krematorium heraus“,
sagt Shlomo Venezia mehr als 60 Jahre später. Bei den Ermordungen in den Gaskammern von Lagerinsassen verzichteten die Deutschen auf ihre Lüge von der Desinfektion. Filip Müller berichtet von der Ermordung von 600 tschechischen Juden des „Familienlagers“ Auschwitz:
“…Aber bevor sie weiterdenken konnten, fuhr Voß, der SS-Mann schon fort: “Alles wird viel leichter sein, wenn ihr euch schnell auszieht und dann in den Raum nebenan geht. Oder wollt ihr es euren Kindern die letzten Augenblicke unnötig schwermachen?” Die Menschen hatten jetzt aus dem Mund ihres sich besorgt gebenden Henkers unmissverständlich und unverblümt gehört, was ihnen bevorstand. Viele wandten sich ab, vor Furcht zitternd. Die Stimmen wurden leise und verkrampft, kaum eine Bewegung der Menschen war noch natürlich. Ihre Augen blickten starr mit durchdringender Schärfe, wie hypnotisiert. Eltern nahmen ihre Kinder in die Arme, tödlicher Ernst erfüllte den Raum.
Die meisten fingen jetzt an, sich auszuziehen, während einige wenige noch zögerten. Als die Henker das bemerkten, trieben und stießen sie die Leute mit Schlägen und Stößen aus dem Auskleideraum in die Gaskammer, ohne Rücksicht darauf, ob sie ihre Kleider schon abgelegt hatten oder nicht. Wer sich widersetzte, auf den wurde erbarmungslos und brutal eingeschlagen. Die wehrlosen Männer hatten sich um die Frauen und Kinder geschart, um sie vor den Schlägen und vor den Bissen der Hunde zu schützen. Auf der engen Fläche des Auskleideraumes, auf dem die Menschen zusammengedrängt worden waren, kam es jetzt zu einem Chaos. Die Opfer stießen und schoben sich gegenseitig, traten sich auf die Füße, Blut spritzte, SS-Männer schrieen und schlugen wild mit Knüppeln, Hunde bellten wütend und bissen um sich. Plötzlich hob eine Stimme zu einem Gesang an, der immer stärker wurde und bald zu einem mächtigen Chor anschwoll.
Die Menschen hatten begonnen, die tschechoslowakische Nationalhymne „Kde domov muj“ zu singen. Anschließend ertönte das jüdische Lied „Hatikvah“. Auch während dieses Gesangs hörten die SS-Männer nicht roh und brutal auf die Menschen einzuschlagen. Sicher betrachteten sie den Gesang als eine Art letzten Protestes gegen das Schicksal, das sie ihnen zugedacht hatten und vor dem es kein Entrinnen gab.“ Und die „Hatikvah“, so Filip Müller, die heutige Nationalhymne des Staates Israel, bedeutete für sie einen Blick in die Zukunft, eine Zukunft freilich, die sie nicht mehr erleben durften.“
Der erste aktive politische Organisator im Sonderkommando soll der Kapo in Krematorium I, der etwa 32-jährige litauische Lehrer Jaacov Kaminsky, gewesen sein. Er stand mit der Leitung der Widerstandsgruppe im Stammlager Auschwitz in direkter Verbindung.
Da er das Vertrauen der wachhabenden SS-Angehörigen genoss, gelang es ihm, unter den verschiedensten Vorwänden andere Lagerabschnitte zu besuchen. Mit Hilfe seiner Freundin Schmidt, die in der im Frauenlager befindlichen Bekleidungskammer als Kapo beschäftigt war, konnten die ersten Verbindungen mit Häftlingsfrauen aus der Pulverkammer der Weichsel-Union-Metallwerke hergestellt werden. Diese Verbindungen konnten vom Sonderkommando aus tatsächlich nur von einem bei der SS und den Mithäftlingen gleichermaßen als Autorität anerkannten Häftlingsfunktionär hergestellt werden. Dieser hatte schließlich über die SS auch Einfluss darauf, wie viel Bewegungsfreiheit dem einzelnen Häftling ermöglicht wurde. So entstand ein enger privilegierter Kreis um Kaminski, der von den schweren Arbeiten ausgenommen wurde. Der gewöhnliche Häftling, der an den Gruben oder als Heizer an den Öfen arbeiten musste, war körperlich und geistig so erschöpft, dass er für die konspirative Planungsarbeit weder Zeit noch Energie übrig hatte.
Kaminski wurde zum Oberkapo ernannt und stand somit von Januar bis April 1944 in der Lagerhierarchie über den polnischen Funktionshäftlingen im Kommando. Die Widerstandsaktivitäten innerhalb des isolierten Sonderkommandos wurden folglich von den im Dezember und Januar eingewiesenen „alten“, erfahrenen und einflussreichen jüdischen Häftlingen aus Polen begonnen, denen sich französische Häftlinge polnischer Herkunft anschlossen. Diese sowie geeignete Sprachkenntnisse waren vor allem für die Verbindung zur polnischen Widerstandsbewegung hilfreich, aber auch verwandtschaftliche Beziehungen konnten eine günstige Rolle spielen. So wurde etwa Noah Zabludowicz, der 24–jährige Cousin von Kapo Shlomo Kirszenbaum, vom Stammlager Auschwitz über die Bauleitung täglich nach Birkenau zur Arbeit kommandiert und konnte als Elektriker das Krematoriumsgelände betreten. Er war einer der Verbindungsleute zwischen dem Sonderkommando und der Kampfgruppe Auschwitz im Stammlager. Gescheiterte Fluchtversuche oder Angriffe von zur Vergasung bestimmten Opfern auf SS-Angehörige waren nicht zu unterschätzende Erfahrungswerte für die traumatisierten Häftlinge. Sie zogen aus diesen eindrucksvollen Aktionen ihre Konsequenzen und richteten ihre Kampftaktik danach aus, die Schwachstellen ihrer Unterdrücker aufzudecken und das Reaktionsvermögen der SS-Posten und -führer zu studieren.
Überliefert wurden seit der Einberufung desSonderkommandos vom 9. Dezember 1942 bis zur Einstellung der Vernichtungsaktionen am 25. November 1944 lediglich fünf Fälle dramatischen und spektakulären Widerstands der Opfer. Außergewöhnliche und extreme Ereignisse dieser Art haben sich im Gedächtnis der Überlebenden nachhaltig eingeprägt, sprachen sich im Kommando und zum Teil auch in anderen Lagerbereichen rasch herum oder wurden von den Chronisten im Sonderkommando dokumentiert und der Nachwelt als Kurzerzählung „aus dem Herzen der Hölle“ hinterlassen. Der erste Fall spielte sich wahrscheinlich im Februar 1943 vor Bunker 2 ab: Ein junger unbekannter Mann, der aus dem Ghetto Bialystok deportiert wurde, verwundete einige SS-Posten mit Messern und wurde schließlich beim Versuch zu flüchten erschossen. Diese Ereignisse belehrten das Sonderkommando, sich unter keinen Umständen an individuellen und verzweifelten Aktionen des letzten Augenblicks zu beteiligen. Die quälende und brennende Hilflosigkeit führte zu tiefer Verzweiflung und unsäglichem Leid unter denjenigen Häftlingen, die Menschenleben retten wollten, aber dazu keineswegs in der Lage waren.
Doch auch die Lagerleitung hatte beträchtliche Sorge hinsichtlich eines Aufstands der Häftlinge. Erhärtet wird diese Annahme durch den Bericht des Chefs des WVHA, SS-Obergruppenführer Oswald Pohl, an den Reichsführer-SS Heinrich Himmler vom 05. April 1944, in dem er die Sicherungsmaßnahmen im KL Auschwitz analysierte und auf den Ernstfall eines Aufstands einging. Aus dem Bericht geht hervor, dass man im Fall eines Aufstands oder Massenausbruchs mit etwa 34.000 beteiligten Häftlingen aus Auschwitz und Birkenau rechnen könne. Die 18.000 kranken oder invaliden Häftlinge der beiden Lager sowie die 15.000 Häftlinge der Nebenlager würden nicht als potentielle Gegner mit eingerechnet. Für Auschwitz und Birkenau stünden 2.300 SS-Angehörige, für die Außenlager weitere 650 SS-Männer zur Verfügung. Insgesamt würde die Region Auschwitz bis Mitte April 1944 von 4.080 Mann und einer unbestimmten Anzahl von Wehrmachtsangehörigen abgesichert.
„Wir, das Sonderkommando, wollten schon seit langem unserer schrecklichen Arbeit ein Ende machen, zu der wir unter der Drohung des Todes gezwungen werden. Wir wollten eine große Sache vollbringen. Aber die Menschen aus dem Lager, ein Teil der Juden, Russen und Polen, hielten uns mit aller Kraft davon zurück und zwangen uns, den Termin des Aufstandes hinauszuschieben.“ Brief von Salmen Gradowski (1909-1944), Auschwitz-Birkenau, den 6. September 1944
In einer verzweifelten Revolte versuchten sich Sonderkommando-Häftlinge am 7. Oktober 1944 schließlich an ihren Peinigern zu rächen und die Vernichtungsanlagen zu zerstören. Obwohl dieses beispiellose Ereignis in einem Blutbad endete, ging es zu Recht als einziger bewaffneter Häftlingsaufstand in die Geschichte von Auschwitz-Birkenau ein. Den Aufständischen gelang es, das als Unterkunft dienende Krematorium III so zu beschädigen, dass es nicht mehr ‚einsatzbereit’ war. Ferner konnten sie drei SS-Unterscharführer töten und vermutlich 12 weitere SS-Angehörige verwunden. Von den zu diesem Zeitpunkt 661 eingesetzten Sonderkommando-Häftlingen wurden 451 Mann während des Aufstands ermordet.
„Zorn und Wut, alle Schmerzen und Qualen, die diese schrecklichen Monate tragischer Arbeit in uns hinterlassen haben und den einzigen Wunsch nach Rache hervorriefen, werden sich dann vereinen. Mit der uns drohenden Lebensgefahr, verbunden mit unserem Wunsch nach Rache und nach Verteidigung unseres Lebens, werden sie unser ganzes Wesen erregen und entflammen. Dann wird die Explosion erfolgen.“ Aufzeichnungen von Salmen Gradowski (1909-1944), Auschwitz-Birkenau, März 1944
Am Morgen des 08. Oktober 1944 lebten noch insgesamt 213 Sonderkommando-Häftlinge: 169 Mann aus Krematorium II und 43 Mann aus den Krematorien III und IV sowie ein Flüchtling aus Krematorium I, der jedoch einige Tage später wieder ergriffen und ermordet wurde. Nach dem Aufstand in Krematorium I blieb nur das vierköpfige Sektionskommando am Leben, die 171 dort eingesetzten Sonderkommando-Häftlinge wurden alle entweder auf der Flucht oder zur kollektiven Bestrafung ermordet. Fast die gesamte Führung der Widerstandsgruppe im Sonderkommando, die sich hauptsächlich in Krematorium I versammelt hatte, wurde ermordet. Es handelte sich um die polnischen Juden Jossel Warszawski (geb. 1906), Salmen Gradowski (geb. 1909), Lajb Panicz (geb. 1912), Ajzyk Kalniak , Jozef Deresinski (geb. 1906), David Golan, Tuvia Segal (geb. 1920) und um Elusz Malinka, der sich am 7. Oktober aber noch auf der Flucht befand. Weitreichende Funktionen hatten zudem die ermordeten griechischen Häftlinge Sam Carasso, Jacko Soel sowie Michel Ardetti. Von der gesamten 324-köpfigen Belegschaft des in den Krematorien III und IV beschäftigten Sonderkommandos überlebten den Aufstandstag nur 43 jüdische Häftlinge, darunter die Anführer Eliezer Welbel (geb. 1916), Shlomo Kirszenbaum (1916-1976), Daniel Finkelstajn, Alter Feinsilber (1911-1987) sowie der Aktivist Shlomo Dragon (1922-2001). Im unbeteiligten Krematoriumskommando II überlebten die Anführer Salmen Lewenthal (1918-1944), Lejb Langfuß (1910-1944), Jankiel Handelsman (1908-1944), Lemke Pliszko (geb. 1918), David Nencel (geb. 1916), Jukel Wrobel (-1944), Joseph Baruch (1910-1945), Shlomo Venezia (geb. 1923) sowie der Aktivist Dov Paisikovic (1924-1988) den Aufstand. Vergessen wir diese mutigen Menschen niemals.
…Unsere Hoffnung galt weniger dem Überleben, sondern dem Bedürfnis, etwas zu tun, Widerstand zu leisten, um nicht so weiterleben zu müssen. Shlomo Venezia
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