Kielce liegt ungefähr in der Mitte von Łódź und Krakau und hat zu beiden Städten eine Entfernung von gut einhundert Kilometer, die Stadt war bereits im 10. Jahrhundert besiedelt und kann somit auf eine lange Stadtgeschichte schauen, vor allem in der Zeit der Industrialisierung wurde Kielce immer bedeutender, da dort Eisenerze abgebaut wurden und ein Knotenpunkt des Schienenverkehrs entstand. Doch neben der Industrialisierung blieb auch das ländliche Umfeld erhalten, so dass man durchaus von einer blühenden, polnischen Stadt, mit einem über die Grenzen der Gemeinde hoch angesehenen Benediktiner Kloster, sprechen konnte und noch heute kann. Zurzeit des Zweiten Weltkriegs besetzten deutsche Truppen die Stadt, in der im September 1939 ungefähr 25 000 jüdischer Menschen lebten, ein viertel der damaligen Bevölkerung. Es folgten Morde an der polnischen Intelligenz, wie überall in Polen, Demütigungen und Einschüchterungen der jüdischen Bevölkerung und soweit es ging, deren Vertreibung, wobei diese nicht im Sinne der Nationalsozialisten gelang. Die SS errichtete Ende März 1941 ein jüdisches Ghetto in Kielce, in dem ungefähr 27 000 Juden leben mussten. Die Anzahl der jüdischen Bevölkerung hatte sich wegen der Deportation von Juden aus Wien und anderen Kreisen um Kielce herum erhöht. Die Zustände im Ghetto waren katastrophal und die Zwangsarbeit zu der die Menschen gezwungen wurden, erhöhte die Sterberate täglich. Im August 1944 wurde das Ghetto geschlossen und der größte Teil wurde nach Auschwitz verschleppt, der andere Teil der jüdischen Ghettobewohner wurde nach Buchenwald transportiert. Im Herbst 1944 war Kielce ‚judenrein’, ganz entsprechend der nationalsozialistischen Terminologie.
Die Rote Armee befreite Polen von der deutschen Gräuel-Herrschaft und nach der Eroberung Berlins und dem Rest Europas endete der Zweite Weltkrieg im Mai 1945. Überall in Europa standen die Menschen vor den Scherben, die dieser Krieg mit all seinen menschenverachtenden Zügen hervorbrachte. Der Schmerz der Menschen wurde überdeckt mit dem Willen des Aufbaus, der Existenzsicherung und dem Blick in die Zukunft. Nirgendwo in Europa gab es eine Zeit des Innehaltens, weder bei den Tätern noch bei den Opfern. Schuld, Scham oder Trauer und Verzweiflung vergruben sich tief in den Menschen, jeder für sich und alle zusammen hofften auf eine friedliche Zeit; und diese Hoffnung wollte sich keiner nehmen lassen, wo er auch immer lebte auf diesem Kontinent. Nach Kielce kamen ungefähr 200 jüdische Menschen zurück in ihre Stadt, einige waren in die Sowjetunion geflohen, andere hatten sich in der Zeit der barbarischen, deutschen Herrschaft versteckt, doch die meisten kamen aus den befreiten Vernichtungslagern.
Geschundene Menschen, oft krank an Körper, Geist und Seele; häufig auf der Suche nach eventuell überlebenden Angehörigen.
Anfang Juli 1946 kam das Gerücht in Kielce auf, dass Juden christliche Kinder entführen und ermorden wollen, uralte Phantasien des Antisemitismus flammten auf und entwickelten sich zu einem Flächenbrand. Am 4. Juli 1946 erfolgten die ersten Ausschreitungen gegen die Juden der Stadt und zwar mit einer Vehemenz, die niemand zu vermuten vermochte. Alles begann mit Protesten vor dem Haus, in dem das jüdische Komitee untergebracht war und in dem auch viele Juden lebten. Angehörige der Miliz, der Staatsgewalt, beschützten nicht etwa die dort arbeitenden Juden, beziehungsweise die Bewohner, nein, mit Waffengewalt räumten sie das Haus und überließen die wehrlosen Menschen dem wutschnaubenden Mob.
Aufgeheizt von antisemitistischen Parolen und einem tief verwurzelten christlich motivierten Hass auf Juden, die ‚Schuld’ an der Kreuzigung Jesu hatten und denen seit Jahrhunderten Ritualmorde an Kindern nachgesagt wurde, entbrannte ein blutiger Pogrom, bei dem ungefähr 40 Juden ermordet wurden, auch zwei Polen kamen dabei um, als sie den hilflosen Menschen zur Hilfe kommen wollten. Überall in Kielce kam es zu Übergriffen auf Juden, neben den 40 Toten, gab es mehr als 80 teils schwer verletzte Menschen. Zwei Tage dauerte die Hatz auf Juden an, sie endete so abrupt, wie sie begann.
Der Pogrom von Kielce gilt als der bekannteste Übergriff auf jüdische Personen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und hatte eine jüdische Emigrationswelle aus Polen zur Folge. Denn die cirka 300 000 Juden, die damals in Polen lebten, verstanden das Signal. Nie wieder gab es eine solche Welle der Emigration aus Polen, begleitet von Angst und Entsetzen. Waren diese Juden doch gerade erst dem Vernichtungswillen der deutschen Aggressoren entkommen. Ein großer Teil von ihnen ging in den Westen Deutschlands, meistens in die amerikanisch besetzte Zone, um von dort aus zu ihrem eigentlichen Ziel zu gelangen. Die wenigsten blieben in Deutschland. Doch auch im Deutschland des Jahres 1946 waren die jüdischen Flüchtlinge nicht unbedingt willkommen, denn da diese in ihrer Mehrzahl von den Amerikanern versorgt wurden, entstanden Neid und Missgunst unter der häufig hungernden und frierenden deutschen Nachkriegsbevölkerung. Es kam zu einem Murren, aber zu keinen Übergriffen. Doch der weiter bestehende Antisemitismus war auch hier erkennbar, denn aufgearbeitet wurden auch hier uralte Phantasie-Gemengelagen nie.
In Kielce kam es zu einem Prozess, hier wurden neun Personen wegen ihrer Teilnahme am Juli-Pogrom zum Tode verurteil, drei weitere wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch die Rolle der staatlichen Stellen an diesen Tagen ist bis heute nicht geklärt. In den Jahren danach war es staatlich verboten über das Verbrechen von Kielce zu publizieren, das kommunistische Regime legte den Mantel des Schweigens über das Verbrechen. Erst die Gewerkschaft Solidarność forderte nach 1980 eine Dokumentation und eine Debatte über die antisemitisch motivierten Mordtaten der ersten Nachkriegsjahre.
Doch erst nach der politischen Wende und dem Fall des Eisernen Vorhangs kam es zu einer gesellschaftlichen Debatte in Polen zu diesem Ereignis. Zum 50. Jahrestag 1996 gedachte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski der Opfer; allerdings fuhr er nicht nach Kielce, weil es im Stadtrat von Kielce Widerstand gegen eine Gedenkfeier gegeben hatte. Dies tat erst sein Nachfolger Lech Kaczyński. 2006 sprach er am Ort des Verbrechens von einer ‚Schande für Polen’. Doch wieder aufgenommene Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden wegen ‚Ergebnislosigkeit’ eingestellt. Bis Heute gibt es Mauern des Schweigens in Kielce, beziehungsweise ein Desinteresse dieses Verbrechen aufzuarbeiten, denn dann müsste es nicht nur zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung kommen, sondern auch der tief sitzende Antisemitismus müsste offen gelegt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass solches geschieht ist äußerst gering und das nicht nur in Polen, sondern das muss (leider) für ganz Europa so gesehen werden.
Die Ereignisse vom 4. Juli 1946 in Kielce wurden im Film ‚Von Hölle zu Hölle’ 1996 thematisiert, einer deutsch-weißrussischen Koproduktion, an der Artur Brauner als Produzent und einer der Drehbuchautoren beteiligt war.
Einen Gedenkstein an diese unwürdege Ereignis gibt es bis heute nicht …
Bild 1: Weinende Frauen in Kielce 1946 · Bild 3: Ermordete in Kielce 1946 · Bild 4: Begräbnis 1946 – alle Quelle: usgmm.org · Bild 2: Verletzter Kalman K. – Quelle: jewishgen.org
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