Der Leidensweg der Sinti und Roma im Nationalsozialismus
Leicht hatten es Sinti und Roma nie in den jeweiligen Gesellschaften hier in Europa. Oft waren sie nur geduldet, wenn überhaupt. Zwar gab es Zeiten und Regionen, in denen sie Anerkennung und Duldung erfuhren, doch das war eher die Ausnahme. Ihr ‚Anderssein’ führte meistens zur Ausgrenzung und zu einem Leben an den Rändern der jeweiligen Gesellschaft, auch wenn es höchste Anerkennung gerade im Bereich der Musik gab. Doch diese Diskrepanz zwischen der ansässigen Bevölkerung um diesem ‚fahrenden Volk’ konnten beide Seiten aushalten, auch wenn es manchmal zu wüsten Vertreibungen kam. Doch nichts ist vergleichbar mit dem rassistischen Völkermord der so genannten ‚Zigeuner’ in der NS-Zeit.
Seit Jahrhunderten leben Sinti und Roma in Europa, wo sie in den einzelnen Ländern historisch gewachsene und alteingesessene Minderheiten bilden. Auch in Deutschland sind Sinti und Roma seit 600 Jahren beheimatet. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma in fast allen europäischen Ländern urkundlich erwähnt; in Deutschland erstmals in der Bischofsstadt Hildesheim im Jahre 1407. Quellen zahlreicher weiterer deutscher Städte bezeugen in den folgenden Jahrzehnten die Anwesenheit der Minderheit. Bereits 1446 verlieh der Rat der Stadt Frankfurt einem „Heincz von Mulhusen zyguner“ das Bürgerrecht. Anfangs standen die Repräsentanten der Minderheit unter dem Schutz der deutschen Könige und Landesfürsten, die ihnen so genannte „Schutzbriefe“ ausstellten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts jedoch, als die spätmittelalterliche Gesellschaft an der Schwelle zur frühen Neuzeit eine Phase des politischen und sozialen Umbruchs erlebte, wurden Sinti und Roma zunehmend unterdrückt und verfolgt. Die Zünfte untersagten ihnen die Ausübung von Handwerksberufen, aus zahlreichen Gebieten wurden sie vertrieben. Dabei fällt auf, dass der Antiziganismus wie der Antisemitismus von Anfang an religiöse Aspekte aufwies, indem man „Zigeuner“ als Heiden oder gar als Verbündete des Teufels stigmatisierte. Wie die Juden, so wurden auch die Sinti und Roma in der Folge immer wieder zu Sündenböcken für alle möglichen Missstände gemacht. Allerdings vermitteln die überlieferten Akten, in denen Sinti und Roma lediglich als Objekte staatlicher Maßnahmen erscheinen, ein einseitiges und verzerrtes Bild. Denn parallel zur Politik der Ausgrenzung hat es vor allem auf lokaler und regionaler Ebene vielfältige Formen eines normalen und friedlichen Zusammenlebens von Minderheit und Mehrheitsbevölkerung gegeben. „Zigeuner“ ist eine in ihren Ursprüngen bis ins Mittelalter zurückreichende Fremdbezeichnung durch die Mehrheitsbevölkerung und wird von der Minderheit selbst als diskriminierend abgelehnt.
Auch in der frühen Neuzeit blieb das Verhältnis der Staaten Europas zu den umherwandernden ‚Zigeuner’ von ambivalent bis feindlich. Nach dem Ende der Versklavung vornehmlich aus dem Balkan, kam es zu einer Flucht aus dieser Gegend und ein größer werdendes Einsickern dieser, für die Einheimischen, Fremden. In Österreich-Ungarn aber auch Bayern gab es strengste Gesetze gegen ‚Zigeuner’.
Erst die Gründung des deutschen Reiches 1871 erlaubte die langfristige Koordinierung der antiziganistischen Repressionen, die erstaunlicherweise noch in der Weimarer Republik perfektioniert wurden und somit dem NS- Staat eine Plattform für die dem Völkermord vorangehende Erfassung der deutschen Sinti und Roma schufen. Bereits im Jahre 1871 wies das großherzogliche Innenministerium Hessens mit Berufung auf das Berliner Reichskanzleramt die Kreisämter an, eingewanderten Roma die Ausstellung von Gewerbescheinen zu versagen und bei Heimatberechtigten Sinti mit größter Vorsicht vorzugehen. ln den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ließ sich daher eine wachsende Anzahl von Sinti- und Roma-familien auf der Flucht vor Repressionen und wegen der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in Handel und Kleingewerbe in deutschen Großstädten nieder. Im April 1926 kam die „Ländervereinbarung zur gemeinsamen und gleichzeitigen Bekämpfung der Zigeuner im deutschen Reich“ zustande; am 16. Juli 1926 wurde in München das Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ erlassen, und im November 1927 wurde vom preußischen Innenministerium die Daktyloskopierung (Entnahme der Fingerabdrücke) aller Sinti und Roma verordnet. Somit erließ bereits die erste deutsche Republik Ausnahme Verordnungen gegen eine ethnische Gruppe, Maßnahmen, die mit der Weimarer Verfassung nicht zu vereinbaren waren.
Durch die ‚Nürnberger Rasse-Gesetze’ 1935 wurden ‚Vollzigeunern’ und ‚Zigeunermischlinge’, genauso wie Juden, Ehen mit ‚Volksdeutschen’ verboten.
Am 8. Dezember 1938 hatte Himmler in einem Runderlass eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ angekündigt. Bestimmend für dessen Umsetzung in operative reichszentrale Vorschriften wurden die Vorstellungen von RHF und RKPA. 1937 nahm die RHF (Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle) ihre Erfassungstätigkeit auf. 1940 ging deren Leiter Robert Ritter von 32.230 „Zigeunern“ im Deutschen Reich aus (einschließlich Österreich und Sudetenland, aber ausschließlich Elsass-Lothringen). Bis zum November 1942, d. h. bis kurz vor dem Auschwitz-Erlass entstanden in der RHF nach Angabe ihres Leiters 18.922 Gutachten. 2.652 davon ergaben „Nichtzigeuner“, wie sie für ein gesondertes „Landfahrersippenarchiv“ erfasst wurden. Dessen Bezugsraum beschränkte sich im Wesentlichen auf bestimmte Teilregionen im Süden des Reichs. Die Arbeiten daran wurden 1944 eingestellt, ohne dass es bis zu diesem Zeitpunkt zu Deportationen wie nach dem Auschwitz-Erlass gekommen wäre.
‚Zigeuner’ wurden deportiert und interniert, doch zum Höhepunkt der Verfolgung kam es nach dem so genannten Auschwitz-Elaß.
Der Völkermord an den europäischen Roma ist weit weniger gründlich erforscht als die Shoa. Den Massenmorden seit Kriegsbeginn ging eine flächendeckende Unterdrückungspolitik voraus, an der in hohem Maße die unteren Ebenen von Polizei und Administration beteiligt waren. Ab 1937 internierten lokale Behörden „Zigeuner“ im Deutschen Reich in zahlreichen Orten in besonderen „Zigeunerlagern“. Die 1937 begonnene zentral organisierte Erfassung der Minderheit, die die Voraussetzung der späteren Deportationen in das Vernichtungslager KZ Auschwitz-Birkenau darstellte, vollzog sich in enger Kooperation mit kommunalen und regionalen Instanzen, mit protestantischen und katholischen Kirchengemeinden und mit Unterstützern und Zuarbeitern aus der Sozialarbeit und aus der Heimatforschung
Als Auschwitz-Erlass wird der Erlass Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 bezeichnet, mit dem die Deportation der innerhalb des Deutschen Reichs lebenden Roma angeordnet wurde, um sie – anders als bei vorausgegangenen individuellen oder kollektiven Deportationen – als komplette Minderheit zu vernichten. Der Erlass selbst ist nicht überliefert. Er wird in den ihm folgenden Ausführungsbestimmungen („Schnellbrief“) des Reichskriminalpolizeiamts (RKPA) vom 29. Januar 1943 als Bezug zitiert:
„Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16.12.42 – Tgb. Nr. I 2652/42 Ad./RF/V. – sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dieser Personenkreis wird im nachstehenden kurz als ‚zigeunerische Personen‘ bezeichnet. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.“
Das Romanes-Wort Porajmos „das Verschlingen“ bezeichnet den Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Dieser bildet den Kulminationspunkt einer langen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung.
Der Schnellbrief trug den Titel „Einweisung von Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager.“ Das im Himmler-Erlass vom 16. Dezember 1942 noch nicht benannte Konzentrationslager wurde das Vernichtungslager Auschwitz II in Birkenau. Dort entstand im Lagerabschnitt B II ein als abgetrennter Bereich das „Zigeunerlager“. Ein erster Transport traf dort am 26. Februar 1943 ein. Bis Ende Juli 1944 waren es etwa 23.000 Menschen, die entsprechend dem Schnellbrief vom 29. Januar 1943 als Familien „möglichst geschlossen“ in das „Familienlager“ verbracht worden waren. Über die Zusammensetzung der Transportlisten entschieden vor allem die lokalen und regionalen Behörden. Dabei bildeten die Gutachten der RHF – soweit solche vorlagen – die Leitlinie. Lokalstudien, aber auch Aussagen von Rudolf Höß (Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz) und anderen Verantwortlichen belegen, dass die Vorschriften über Ausnahmefallgruppen nur begrenzt Beachtung fanden. Demnach habe der Mischlingsgrad bei der Einweisung nach Auschwitz keine Bedeutung gehabt. Hunderte Soldaten, darunter Kriegsversehrte und Ausgezeichnete, seien eingewiesen worden. Insgesamt wurden an die 15.000 Menschen aus Deutschland zwischen 1938 und 1945 als ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischlinge‘ umgebracht“, davon etwa 10.500 in Auschwitz-Birkenau.Ziel der vom NS-Staat organisierten Mordpolitik war die vollständige Vernichtung der Minderheit vom Säugling bis zum Greis. Die Realisierung des Völkermords an den Sinti und Roma war nur möglich im Kontext der nationalsozialistischen Rassenideologie und unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft sowie der bis dahin ungeahnten Gewaltentfesselung im Zweiten Weltkrieg. Nach Schätzungen fielen im nationalsozialistisch besetzten Europa 500.000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer – einem Verbrechen, das sich jedem historischen Vergleich entzieht und das in seinem Ausmaß unvorstellbar bleibt.
Nach der Befreiung gab es leider keine Anerkennung der Sinti und Roma, auch keine Wiedergutmachen.
Im Februar 1982 erfolgte die Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg. Diese Dachorganisation, der 16 Mitgliedsvereine (Landesverbände und regionale Vereine) angehören, vertritt seither auf nationaler wie internationaler Ebene die Interessen der in Deutschland lebenden Sinti und Roma. Eine entscheidende Zäsur in der Bürgerrechtsarbeit war der 17. März 1982, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrats empfing und in völkerrechtlich bedeutsamer Weise die NS-Verbrechen an den Sinti und Roma als Völkermord aus Gründen der so genannten „Rasse“ anerkannte. Dies wurde durch den Nachfolger in diesem Amt, Bundeskanzler Helmut Kohl, im Rahmen einer Bundestagsdebatte im November 1985 noch einmal bestätigt.
Am 2. August 1944 hatten die Nationalsozialisten im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau das so genannte „Zigeunerlager“ aufgelöst und in der folgenden Nacht die letzten rund 3.000 Häftlinge in Gaskammern ermordet. Darum wurde dieser zweite August in Polen zum Gedenktag für die Leiden der Roma und Sinti implementiert. Gut wäre es, wenn sich dies auch in Deutschland einbürgern würde.
Bild 1: Sinti u. Roma kommen nach Bern i. 15. Jahrhundert – Quelle Dokomentations-u. Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma
Bild 2: Holzschnitt 1550 – Quelle s.o.
Foto: „Zigeuner“ i. Bergen-Belsen 1940 – Quelle s.o.
Foto: Zigeunermädchen auf dem Transport nach Auschwitz, dort wurde sie am 3.8.44 ermordet – Quelle s.o.
Foto: Gedenkrelief an Roma uns Sint Quelle Wikipedia
Hinterlasse einen Kommentar