Augen-Blicke • Vom Sehen, Schauen und Hingucken

Augen-Blicke • Vom Sehen, Schauen und Hingucken

 

Letztens sprach ich mit einem sehr älteren Herren über die phantastischen Wolkenbilder am Himmel und er sagte mir, dass er da gar nicht mehr hinschaue, denn er habe ja so viele bereits gesehen in seinem Leben. Nun, dies wollte ich nicht unwidersprochen lassen, denn mein Argument war, dass jedes Mal des genauen Hinschauens, es eine neue Begegnung ist, sich andere Bilder in einem darstellen und so auch andere Empfindungen. Na und, um bei den Wolkenbildern zu bleiben, die sehen sowieso immer anders aus. Der alte Herr gab mir Recht und ließ sich tatsächlich zu einem lächelnden Blick gen Himmel bewegen. Doch wie ist es überhaupt mit unserem Sehen, unserem genauen Hinschauen? Millionen von Informationen nehmen wir über unsere Augen auf, die einen müssen eingeordnet werden, andere wiederum werden verworfen, denn wir haben gelernt, dass wir uns einer Reizüberflutung erwehren müssen, oder wenigstens sollten. Doch das ist gar nicht so einfach, da werden schnell mal Überschriften gelesen, schnelle Bildfolgen im vorbeihuschenden Auto wahrgenommen, nebenbei wird Musik gehört, doch unser konzentrierter Blick liegt auf etwas völlig anderem. Wir sollten uns das so mal bewusst machen, dann erkennen wir, dass das Sehen für uns so völlig selbstverständlich ist, dass es schon ein Innehalten benötigt um ganz bewusst hinzuschauen.

„Feuer, Luft, Wasser, Erde sind im Menschen, aus ihnen besteht er. Vom Feuer hat er die Wärme, Atem von der Luft, vom Wasser Blut und von der Erde das Fleisch; in gleicher Weise auch vom Feuer die Sehkraft, von der Luft das Gehör, vom Wasser die Bewegung, von der Erde das Aufrechtgehen.“  Hildegard von Bingen

Von klein auf sind wir es gewöhnt unsere Sinne zu benutzen. Wir lernen Dinge zu erfassen und sie wieder zu erkennen, die Gesichter unserer Umgebung sind uns vertraut und wenn wir diese Phase der Entwicklung gemeistert haben, dann wenden wir uns der Außenwelt zu und lernen so hinzuschauen und zu erkennen. So kommen jeden Tag neue Dinge hinzu, das ist eine äußerst spannende Zeit, sowohl für das Kind wie auch für seine Umgebung. Später lernen wir lesen, dass dann viele so vervollkommnen, dass sie in kurzer Zeit Texte erfassen können oder sie sozusagen querlesen. Je älter wir werden, desto weniger intensiv schauen wir hin, überhaupt dann, wenn uns die Dinge oder die Umgebung bekannt sind. Ich selbst bemerke dieses Phänomen immer bei meinem Mann, wenn wir auf weniger oder gar unbekannten Wegen unterwegs sind, fährt er weitaus verhaltener mit dem Auto, ist er aber in so genannten bekannten Gefilden, dann braust er los, auch dann, wenn sich die Verkehrslage als solches gar nicht geändert hat. Solch ein Verhalten wird jeder auf vielfältige Art und Weise an sich bemerken, denn wir überblicken vieles ohne ganz bewusst hinzusehen. Natürlich ist es auch völlig richtig von der Natur eingerichtet, dass wir auch ganz unbewusst wahrnehmen, denn auch jeder Kleinigkeit, die uns vor Augen kommt, größere Aufmerksamkeit zu widmen, würde uns völlig überfordern. Doch nicht nur einer ganz ‚normalen’ Reizaufnahme sind wir ausgesetzt, nein, denn in dieser temporeichen Zeit, werden wir immer häufiger von äußeren Umständen genötigt, uns einen Überblick zu verschaffen, beziehungsweise ihn (immer) zu haben. Vor ungefähr zweihundert Jahren konnte der damalige Studiosus das ‚Weltwissen’ erfassen und Neues ersinnen, heute ist es schon oftmals beschwerlich die Informationsflut nur eines Tages im Blick zu behalten. Natürlich muss niemand alles wissen, doch selbst wer nur Fachgebiete für sich erobert, kann nicht immer auf dem neuesten Stand sein. Wir müssen also Abstriche machen, was per se so schlecht nicht ist, doch müssen wir diese Entscheidung in Bruchteilen von Sekunden fällen, tja, und ob das immer die richtige Entscheidung ist, nun, das weiß man erst viel später. Wenn sich eine solche Reizüberflutung ‚nur’ auf die Arbeitswelt beziehen würde, wäre dies bestimmt ein Stressfaktor unter vielen, doch auch unsere Freizeit ist von schnellen Bildfolgen geprägt. Filme werden häufig so gedreht, dass ein Innehalten dem Auge selten möglich ist. Computerspiele sind eine riesige Anhäufung von Bildern und Szenen, die in Sekundenbruchteilen zu erfassen sind um entsprechend zu reagieren. Da wirken ein Buch ohne Bilder, ein Theaterstück oder ein Museumsbesuch fast langweilig für unsere Augen.

„Zum Sehen geboren – Zum Schauen bestellt.“  Johann Wolfgang von Goethe 

So sollten wir uns ab und an einmal dazu ‚zwingen’ Innezuhalten um ganz bewusst hinzuschauen. Da gibt es das erste Grün im Frühling, dass es zu bestaunen gibt oder die Farbenpracht des Herbstes. Es dürfen Sonnenuntergänge bestaunt werden oder man begrüßt den Tag freudig mit einem wunderschönen Sonnenaufgang, hinzu kommt die Farbenvielfalt aller Blumen und Blümchen, die auf den ersten Blick zwar gleich aussehen, es aber nicht sind. Aber es lohnt sich auch, die Menschen genau anzuschauen, die wir kennen und ganz besonders die, die wir gut zu kennen glauben. Ihre Mimik, ihre Gestik und ihre Veränderung wahrzunehmen. Unser Gegenüber ist es wert, dass wir ihm mehr als nur einen Blick schenken, sondern ihn in seiner beziehungsweise ihrer Ganzheit zu betrachten, die Körpersprache in uns aufnehmen und  einen bewussten Zugang zu unserem Gegenüber gewinnen. Sich diese Zeit der Muße zu nehmen, bereicht uns, und kann uns animieren auch uns selbst ins Blickfeld zu rücken. Solche Momente sind kostbar und genauso sollen wir sie auch behandeln, um uns selbst damit zu beschenken. Benutzen wir unsere Sinne und lassen wir sie, einer Blüte gleich, zur vollen Entfaltung kommen.

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