Alte Menschen · Vom Ruhestand in den Holocaust

Alte Menschen · Vom Ruhestand in den Holocaust

 

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“ Theodor W. Adorno

Sie sind 60, 70 oder 80 Jahre alt; ein bisschen mehr, ein bisschen weniger, nun darauf kommt es nicht an. Sie haben gelacht, geliebt; waren wütend oder manchmal teilnahmslos, aber wie auch immer sie haben gelebt. Sie hatten Kinder, einen Beruf, manche eine Karriere, sie haben sich etwas aufgebaut und für ihr Alter gesorgt. Sie waren aufrechte Bürger, haben ihre Steuern bezahlt, viel und manchmal hart gearbeitet, haben sich nichts zu Schulden kommen lassen und haben ihren gesellschaftlichen Anteil geleistet. Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, hat ein Leben mit Höhen und Tiefen durchlaufen, manche durch litten. Ein jeglicher auf seinem Platz. Nun im Alter wird alles etwas ruhiger, gemächlicher, man freut sich über die Kinder, Enkelkinder und vielleicht auch schon über das eine oder andere Urenkelchen. Man ist geachtet in der Familie und auch sonst in seinem Unkreis und wenn der eine oder andere zurückschaut, dann war es ein ordentliches Leben, mit dem man im Großen und Ganzen zufrieden sein konnte und kann. Die Zeiten waren etwas unsicher, nach dem verlorenen Krieg und den damit verbundenen Leiden, dann gab es eine große Wirtschaftskrise und überhaupt, änderte sich alles viel schneller als früher. Die Städte wurden größer, die Menschen mobiler, das allgemeine Treiben wurde bunter. Nicht alles befürworteten die älteren Menschen, manche sehnten sich frühere Zeiten zurück doch im Allgemeinen, arrangierte man sich so gut es halt ging und wenn man es recht betrachtete, so war es ja gar nicht so schlecht. Die Kinder hatten meistens ihr Auskommen, die Enkel wuchsen heran und waren fröhlich, na, und was einem nicht so gefiel, konnte man in der Gelassenheit des Alters auch mal übersehen. Natürlich hatte man Angst um die Alterssicherung, denn das ganze Finanzwesen wackelte gewaltig und die Arbeitslosigkeit war hoch, so hoffte man, dass es die seinen nicht trifft. Doch politisch war so viel in Bewegung, da verlor der eine oder andere schon mal den Überblick.


Aber nicht alles konnte man übersehen, konnte es nicht vor der eigenen Tür belassen. Da hörte man von Prügeleien, von Pöbeleien und äußerst rauem Umgangston. Blutige Straßenschlachten in den Städten und eine neue Partei mit Hasstiraden. Eher als unangenehm wurde diese Art des Zeitgeistes aufgenommen, doch hatten die meisten schon genug in ihrem Leben erlebt, als dass es sie gänzlich verschreckte. Eine ungute Zeiterscheinung von der die meisten glaubten, dass sie vorüber geht. Doch diese neue Partei gewann an Zustimmung und ihre menschenverachtenden Äußerungen wurden lauter und auch bejubelt. Mit einem Köpfschütteln war das nicht mehr zu übersehen, doch das Vertrauen in die Nachbarschaft, die Bevölkerung als solches, in deren Mitte man ja gelebt hat, dies Vertrauen war noch recht groß. Als dann diese Partei den Kanzler stellte und die Beunruhigung innerhalb der Familie zunahm, kroch in vielen die Angst auf die Zukunft empor.

Dann ging es los:

17.02.1933 Die bestehenden Anordnungen an die Polizei, von der Ausweisung von ausländischen oder staatenlosen „Ostjuden“, die schon lange in Deutschland gelebt hatten, abzusehen, werden aufgehoben.

06.03.1933 Beginn von Angriffen der Nationalsozialisten gegen Juden auf dem Berliner Kurfürstendamm, mit einem ersten blutigen Höhepunkt am 9. März.


09.03.1933 In Berlin, Magdeburg und im Rheinland blockieren SA-Männer vereinzelt jüdische Warenhäuser und Geschäfte. In Chemnitz zwingen SA und Stahlhelm jüdische Beamte zum Verlassen des Amtsgerichts; ähnliches geschieht in mehreren schlesischen Städten. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens – die zahlenmäßig und politisch bedeutendste Organisation der deutschen Juden – veröffentlicht eine Meldung über ein Gespräch mit Minister Göring. Dieser habe zugesagt, dass die Sicherheit des Lebens und des Eigentums der jüdischen Staatsbürger, die sich der Regierung gegenüber loyal verhalten, gewährleistet werde. Anhaltspunkte für Zusammenhänge des Centralvereins mit kommunistischen und staatsfeindlichen Bestrebungen liegen lt. Göring nicht vor.

Aber das ist nur der Anfang. Die ersten Familien Mitglieder überlegen sich zu emigrieren, denn sie verlieren ihre Arbeitsplätze oder ihre Arbeit wird stark eingeschränkt, die Enkelkinder dürfen nicht mehr auf ihre alten Schulen gehen und auch sonst werden die Repressionen immer stärker. Die Älteren haben Verständnis für die Kinder und Kindeskinder, diese haben eine Zukunft ja noch vor sich, doch was ist mit ihnen? Einige werden gedrängt mitzugehen, doch wollen sie Hemmschuh für die Jüngeren sein? Einige können sich gar nicht vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. Viele vertrauen auch noch auf die Gesetze und können sich nicht vorstellen, dass es unangenehmer wird. Andere haben auch gar nicht mehr die Kraft, woanders neu zu beginnen. Doch die Situation wird nicht besser, im Gegenteil.


15.09.1935 Der Reichstag nimmt einstimmig die ‚Nürnberger Rassengesetze’ an: Das Reichsbürgergesetz und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Im Reichsbürgergesetz wird unterschieden zwischen Staatsangehörigen und Reichsbürgern. Letzteres kann nur sein, wer „deutschen oder artverwandten Blutes“ ist. Nur die Reichsbürger sind „Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze“. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre verbietet Eheschließungen zwischen Juden und Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“. Auch außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ ist verboten. Juden dürfen ab 1. Januar 1936 keine weiblichen Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ unter 45 Jahren in ihrem Haushalt beschäftigen. Juden dürfen die Reichs- und Nationalfahne nicht hissen und die Nationalfarben nicht tragen.

Trotz eines leichten Aufatmens vor und während der Olympischen Spiele in Berlin gingen die Erniedrigungen weiter.

08.08.1936 Nach Angaben der „Jüdischen Rundschau“ haben zwischen Februar 1933 und April 1936 93.000 Juden Deutschland verlassen. 31.000 emigrierten nach Palästina, 22.000 in die europäischen Nachbarstaaten, 22.000 nach Übersee (davon 9.500 in die USA), und 18.000 Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit kehrten in ihre Heimatländer zurück.


Leitartikel im „Stürmer“ von Julius Streicher:
„Als der Stürmer vor einigen Jahren davon sprach, dass die Verbringung der Juden nach der französischen Kolonialinsel Madagaskar eine Möglichkeit zur Lösung der Judenfrage darstelle, wurden wir von Juden und Judengenossen verhöhnt und als unmenschlich erklärt. Heute hat unser Vorschlag bereits Eingang in die Gedankenwelt auswärtiger Staatsmänner erhalten. So meldete die Tagespresse, dass bei den Besprechungen, die der französische Außenminister Delbos in Warschau hatte, auch die das polnische Volk schwer bedrückende Judenfrage zur Erörterung kam. Dabei soll auch die Rede davon gewesen sein, ob nicht vielleicht ein Teil des jüdischen Überflusses aus Polen nach Madagaskar abgeleitet werden könne. Sei dem, wie es wolle: das neue Deutschland befindet sich auf einem Weg, der zur Erlösung führt. Und über das erlöste Deutschland hinweg wird sich die Welt erlösen. Erlösen vom ewigen Juden!“ (Der Stürmer, Nr. 1/1938)

09.11. + 10.11. 1938 Die Pogromnacht. Nach dem Tod des am 7. November angeschossenen, am 9. November nachmittags verstorbenen deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris, wurden mindestens 91 Juden bei den Angriffen der Nationalsozialisten getötet. Ungefähr 20.000 Juden werden festgenommen und auf die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verteilt. Die schwer bis leicht verletzten jüdischen Mitbürger sind hier nicht aufgelistet.

Nach der Pogromnacht und dem verpflichtenden Tragen des Judensterns an der Kleidung war an den Motiven der Nationalsozialisten kein Zweifel mehr. Auch wenn noch einige Hoffnung auf ein bescheidendes Weiterleben hatten und auch in den jüdischen Gemeinden ein Schrecken nicht zu Ende gedacht wurde, so war es nun klar, dass die Situation eskalierte. Wer konnte, verließ das Land. Aber die Älteren, die Gebrechlichen, für sie gab es kaum ein entweichen und nachdem am 1. September 1939 der Krieg begann war für viele das letzte Prinzip der Hoffnung aufgezehrt. In keiner anderen Gruppe der verfolgten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus, war die Selbstmordrate so hoch wie unter den älteren Menschen.

10. Oktober 1941 Reinhard Heydrich, stellvertretender „Reichsprotektor“ für Böhmen und Mähren, seinem Prager Stab mit, dass in Theresienstadt ein Ghetto zu errichten sei: „Nach Evakuierung aus diesem vorübergehenden Sammellager (wobei die Juden ja schon stark dezimiert wurden) in die östlichen Gebiete könnte dann das gesamte Gelände zu einer vorbildlichen deutschen Siedlung ausgebaut werden.“  Die Funktion Theresienstadts als Sammel- und zugleich „Dezimierungslager“ war somit von Beginn an geplant, ein ‚Altersghetto’ wurde ebenso geplant. Am 1. November 1941 besprach Heinrich Himmler telefonisch mit Heydrich den „Aufenthalt d. über 60 Jahre alten Juden“, worauf sich am 18. November Joseph Goebbels in sein Tagebuch notierte: „Auch eine Reihe von alten Juden können [sic!] nicht mehr nach dem Osten abgeschoben werden. Für sie soll ein Judenghetto in einer kleinen Stadt im Protektorat eingerichtet werden.“ Auf der so genannten Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 wurde die Stadt, in die bereits seit November 1941 Tausende von Jüdinnen und Juden aus dem „Protektorat“ deportiert worden waren, auch „offiziell“ als „Altersghetto“ bezeichnet: „Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto – vorgesehen ist Theresienstadt – zu überstellen. Neben diesen Altersklassen […] finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die Schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (EK I) Aufnahme.“ Goebbels weiter: „Es haben sich da leider etwas unliebsame Szenen vor einem Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden etwas Partei ergriff.“ Blick auf die Altersstatistik des Konzentrationslagers Theresienstadt: Während zum 1. Juni 1942, vor den Deportationen aus Deutschland und Österreich, der Anteil von Häftlingen über 65 Jahre etwas über 21 % betrug, lag er am 15. September 1942 bei über 55 %.Das „Altersghetto“ Theresienstadt nahm somit von Anfang an besonders für die ÖsterreicherInnen und Deutschen zugleich die Funktion eines „Dezimierungslagers“ ein.

Gerade diese, überwiegend älteren, Häftlinge starben entweder sehr rasch infolge der schrecklichen Lebensbedingungen im Lager oder wurden bald nach ihrer Ankunft weiterdeportiert und dann erschossen oder in Gaskammern ermordet: Von den über 7.600 aus Österreich nach Theresienstadt deportierten Jüdinnen und Juden, die aus Theresienstadt nicht weiter in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden, starben über 80 % in Theresienstadt, davon fast zwei Drittel während der ersten sechs Monate nach der Ankunft. Von den rund 7.500 aus Österreich deportierten Menschen, die aus Theresienstadt nach dem Osten geschickt wurden, vor allem nach Treblinka und Auschwitz, überlebten lediglich 263 namentlich bekannte Personen.

Wer von den Älteren ein Ghettoleben und den tagelangen Deportationstransport in Viehwaggons überlebte, wurde an den Selektionsrampen als nicht arbeitfähig eingestuft und so war der Gang in die Gaskammern der letzte Gang …

 

Foto 1: Großeltern 1933 – Quelle: joerg-sieger.de · Foto 2: Pogrom 1938 Baden-Baden · Quelle: wordpress.com · Foto 3: Judenstern in Deutschland – Quelle: juniorwebaward.ch · Foto 4: Brennende Synagoge – Quelle: welt.de · Foto 5: Altersghetto Theresienstadt – Quelle: Gelsenzentrum.de · Foto 6: Selektion auf der Rampe v. Auschwitz – Quelle: welt.de 

Die Kinder der Shoah ✡ Mit ihren Augen gesehen …

….genauso wehrlos wie alte und gebrechliche jüdische Menschen waren auch die Kinder …

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