Eva Gabriele Reichmann und die Antisemitismusforschung
Eva Gabriele Reichmann, geborene Jungmann wurde am 16. Januar 1897 in Lublinitz und verstarb am 15. September 1998 in London. Sie war eine bedeutende deutsche Historikerin und Soziologin jüdischer Herkunft. Sie arbeitete in der Antisemitismusforschung, aber erst nach 1945 trat sie damit besonders hervor. Eva Reichmann wuchs in einer sich ihres Judentums sehr bewussten Familie auf, ihr Vater war ein bekannter Jurist. Dem Rabbi ihrer frühen Jahre, Leo Baeck, hielt sie ein Leben lang die freundschaftliche und religiöse Treue. Für sie war Leo Baeck wörtlich das ‚Symbol des deutschen Judentums’. Eva Jungmann war mit dem Rechtsanwalt Hans Reichmann verheiratet und führte seit dem einen Doppelnamen bei wissenschaftlichen Arbeiten. Beide arbeiteten in der Weimarer Republik von 1924 bis zu seiner Auflösung 1939 für den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, eine der wichtigsten Organisationen zum Schutz des Judentums in Deutschland.
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen wurde am 26. März 1893 in Berlin gegründet. Er repräsentierte die Mehrheit der assimilierten bürgerlich-liberalen Juden in Deutschland, trat für deren Bürgerrechte und ihre gesellschaftliche Gleichstellung ein und versuchte, Judentum und Deutschtum miteinander zu vereinbaren. Hauptanstoß zur Gründung des Centralvereins war die 1893 erschienene Schrift von Raphael Löwenfeld: Schutzjuden oder Staatsbürger. Von einem jüdischen Staatsbürger. Nach anfänglichen 1.420 zählte der Verein 1926 bereits über 60.000 Mitglieder. Der Centralverein war die bedeutendste Organisation unter den zahlreichen jüdischen Vereinen und Verbänden, die sich als Reaktion auf den erstarkenden Antisemitismus im Kaiserreich bildeten. 1928 wurde ein Büro in der Wilhelmstrasse in Berlin eröffnet. 1929 war der Centralverein die Dachorganisation für insgesamt 31 Landesverbände mit ca. 500 Ortsgruppen, 1938 wurde er verboten. Der Centralverein sah seine Hauptaufgabe in der Durchsetzung bereits erreichter staatsbürgerlicher Rechte und der Abwehr von Angriffen auf die staatsbürgerliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden. Das Bekenntnis zur deutschen Nation stand dabei im Vordergrund. Die Mitglieder verstanden sich primär als Bürger des Deutschen Reichs mit einer eigenen Religion. Der Centralverein stand der zionistischen Auffassung kritisch gegenüber, es gebe eine jüdische Nation mit eigener Geschichte, Kultur und Zukunft.
1938 wurde der Ehemann von Eva Reichmann-Jungmann in Verbindung der Novemberpogrome 1938 für einige Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Nach seiner überraschenden Entlassung emigrierte das Paar 1939 nach London.
Dort arbeitete Eva Reichmann als Übersetzerin für den Abhördienst der BBC. Im Jahr 1945 promovierte sie zum zweiten Mal an der London School of Economics mit der Arbeit Hostages of Civilization, die auf Deutsch 1951 erschien: Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Darin analysierte sie den Untergang der jüdischen Gemeinden Deutschlands und beschrieb den spezifischen Antisemitismus der Nationalsozialisten als Sonderfall allgemeiner Fremdenfeindlichkeit gegen eine religiös-ethnische Minderheit und als Kompensation für eine tiefe „Unsicherheit im deutschen Nationalbewusstsein“. Obwohl dieser Erklärungsansatz für den Holocaust heute stark differenziert wurde und so nicht mehr vertreten wird, regte ihre Arbeit die folgende Forschung zum Thema entscheidend an. Als eine der ersten deutschsprachigen Historikerinnen und selbst verfolgte Jüdin sammelte und archivierte sie Berichte verfolgter Juden und Augenzeugen für die Forschungsabteilung der Wiener Library. In persönlichem Kontakt war sie mit Hannah Arendt und natürlich mit Leo Baeck. Als Leiterin der Forschungsabteilung wertete sie auch die Protokolle der Nürnberger Prozesse aus. Zugleich engagierte sie sich stark für die Versöhnung der Überlebenden des Holocaust und exilierten deutschen Juden mit den nichtjüdischen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland.
Eva Reichmann gilt als hervorragende Wissenschaftlerin, die direkt nach Kriegsende als betroffene Zeitzeugin den Weg zum Holocaust zu erforschen begann und damit einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung und Versöhnung leistete.
Eva Gabriele Reichmann erhielt 1982 den Moses-Mendelssohn-Preis und ein Jahr darauf das Große Bundesverdienstkreuz, später die Buber-Rosenzweig-Medaille.
Foto1: E.G. Reichmann 1961 – Quelle: Yad Vashem · Foto 2: Türschild des CV – Quelle: yadvashem.org · Foto3: Büro des CV von Hans Reichmann – Quelle: yadvashem.org · Foto 4: Eva Reichmann – Quelle: gvtO.com
Hinterlasse einen Kommentar