Das Ghetto von Riga

Das Ghetto von Riga

 

Am 1. Juli 1941 nahmen deutsche Truppen die lettische Hauptstadt Riga ein. Damit begannen massive Übergriffe lettischer Nationalisten gegen die jüdische Bevölkerung, bei denen innerhalb eines Vierteljahres mehr als 6000 Menschen starben. Die deutschen Besatzer beschlossen am 21. Juli, die etwa 30 000 Juden in ein mit Stacheldraht umzäuntes Ghetto zu sperren. Alle Juden wurden registriert, auch ein Judenrat wurde eingesetzt. Das mit Stacheldraht umzäunte Ghetto entstand in der so genannten „Moskauer Vorstadt“, dort lebten im Oktober 1941 auf engstem Raum 30.000 Juden. Dies ist der sechste und letzte Teil, zu der Thematik der Shoah in Lettland an dieser Stelle.

 Der sechste Deportationszug aus Deutschland mit Zielort Riga, der am 10. Dezember 1941 mit Kölner Juden eintraf, kam im so „freigemachten“ und verkleinerten Ghetto unter. Ein Zeitzeuge berichtete:

„Es lagen noch Essensreste auf dem Tisch, und die Öfen waren noch warm … Später habe ich dann erfahren, dass kurze Zeit vor Eintreffen unseres Transports lettische Juden erschossen wurden.“

Bis zum Jahresende trafen weitere 3.000 Juden aus Deutschland ein, darunter rund 1.000 hannoversche Juden und 1.000 Juden aus Kassel. Wieder wurde eine „Selbstverwaltung“ eingesetzt, zu dessen Leiter als „Ältestenrat der Reichsjuden im Ghetto zu Riga“ der frühere Leiter des Kölner Wohlfahrtsamtes Max Leiser bestimmt wurde. Dem jüdischen Ghettorat unterstanden später die Ghettopolizei von etwa 70 Personen, die Arbeitseinsatz-Zentrale, ein Schulsystem sowie die Straßenreinigung und Abfallentsorgung. Bis Mitte Februar 1942 kamen 10.000 Juden aus verschiedenen deutschen Städten und aus Prag hinzu. In einem abgetrennten Bereich waren 4.700 lettische sowie litauische Juden aus Kaunas untergebracht. Unklar bleibt, wie viele der 15.073 auf den Transportlisten verzeichneten deutschen Juden tatsächlich im Ghetto Riga aufgenommen wurden. Einige Dutzend Männer wurden direkt vom Bahnhof Šķirotava aus ins Lager Salaspils geschickt; wahrscheinlich sind bei einzelnen Transporten aus Theresienstadt aber auch gebrechliche Personen selektiert und noch am Ankunftstag erschossen worden. Der Mangel an Arbeitskräften beim Torfabbau, in der Landwirtschaft und im Baugewerbe war beträchtlich, zumal Gauleiter Fritz Sauckel als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“ immer mehr Arbeiter für den Einsatz im Reich anforderte. Dennoch sträubte sich der Ghettokommandant, den Wünschen des zivilen Arbeitsamtes nachzukommen: Die Juden aus Deutschland seien nur vorübergehend hier untergebracht, ihre Einsatzfähigkeit sei wegen des Alters nur gering, die Arbeitskommandos würden zum Ausbau des Lagers in Salaspils benötigt oder seien bereits für die Logistik der Wehrmacht im Hafen, bei den Güterzügen und beim Flughafenbau beschäftigt. Im März 1942 wurden während der Aktion Dünamünde etwa 1.900 Arbeitsunfähige ausgewählt und unter dem Vorwand, in Dünamünde zu leichter Arbeit bei der Fischverarbeitung eingesetzt zu werden, in den Wald von Biķernieki geschafft, dort erschossen und verscharrt. Im Arbeitseinsatz befanden sich Ende 1942 rund 12.000 Juden des Rigaer Ghettos. Etwa 2.000 waren an der Arbeitsstätte kaserniert, 2.000 arbeiteten in Werkstätten innerhalb des Ghettos, mehr als 7.300 wurden in Kolonnen zur Arbeitsstätte geführt. Eine Abrechnung aus dem Jahre 1943 geht von 13.200 Juden im Ghetto aus.

Der Arbeitskräftemangel bei kriegswichtigen Betrieben wie auch der wirtschaftliche Vorteil, den das WVHA durch die Überlassung von jüdischen Zwangsarbeitern daraus zog, schützten jedoch nicht dauerhaft vor den Vernichtungsabsichten der Nationalsozialisten. Himmler ordnete im Juni 1943 an,

„alle im Gebiet Ostland noch in Ghettos vorhandene Juden in Konzentrationslager zusammen zu fassen… „Ich verbiete ab 1. 8. 1943 jedes Herausbringen von Juden aus den Konzentrationslagern zu Arbeiten. In der Nähe von Riga ist ein Konzentrationslager zu errichten, in das die ganzen Bekleidungs- und Ausrüstungsfertigungen, die die Wehrmacht heute außerhalb hat, zu verlegen sind. Alle privaten Firmen sind auszuschalten. Die nicht benötigten Angehörigen der jüdischen Ghettos sind nach dem Osten zu evakuieren.“

Im Rigaer Villenvorort Mežaparks-Kaiserwald entstand im Sommer 1943 das umzäunte KZ Riga-Kaiserwald, in dem acht Baracken für Häftlinge vorgesehen waren. Die ersten vierhundert Juden wurden im Juli 1943 aus dem Ghetto dort hin geschafft. Für die Häftlinge bedeutete dies die Trennung von den Angehörigen; Häftlingskleidung, Abscheren der Haare und Verlust der Privatsphäre wirkten wie ein Schock. Von diesem Zeitpunkt an begann die schrittweise Auflösung des Ghettos in Riga. Zum wesentlichen Teil war es im November 1943 geräumt. Weitreichende Planungen, das Konzentrationslager auszubauen und ein zweites zu errichten, wurden nicht mehr verwirklicht. Mehrere Betriebe richteten Lager ein, in denen die Zwangsarbeiter kaserniert wurden. Kinder und Kranke wurden im November 1943 nach Auschwitz deportiert. Ab August 1944 wurden Häftlinge auf dem Seewege ins Konzentrationslager Stutthof „evakuiert“.

Insgesamt sind etwa 27.000 deutsche Juden nach Riga deportiert worden. Die wenigsten von ihnen haben überlebt.

Am 21. September 2010 wurde in Riga das Ghetto-Museum eröffnet, das sich in der Moskauer Vorstadt an der Grenze des ehemaligen Ghettos befindet, es ist das jüdische Ghetto der Zeit des Nationalsozialismus, das am besten erhalten ist.

Letten waren in hohem Maße an der Judenverfolgung beteiligt, eine Tatsache, die bis heute verdrängt worden ist. Dies schmälert die Perfidität deutschen Handelns in keiner Weise, doch  beide Völker, Deutsche wie Letten, haben allen Grund dieses Stück Vergangenheit, für sich selbst und gemeinsam aufzuarbeiten. Hier die ungekürzte Rede, die der Historiker und Abgeordnete des lettischen Parlaments Prof. Dr. Mavriks Vulfsons am 3. Dezember 1991 bei der Trauerfeier in Rumbula, Lettland, hielt:

 Der Rigaer Blutsonntag 1941

 Rede von Prof. Dr. Mavriks Vulfsons

Geehrte Teilnehmer der Trauerfeier,

Holocaust ist ein Wort, bei dem jeder Mensch erstarrt, der in der zivilisierten Welt lebt. Holocaust ist ein Wort, das in Lettland nur sehr wenige kennen, obwohl gerade in Lettland, verhältnismäßig gesehen, mehr Angehörige des jüdischen Volkes lebten als in jedem anderen Land der Welt. Als Mensch, der vor 50 Jahren in diesem Wald von Rumbula und der „Kelderlija“ von Valmiera 32 nahe Angehörige verloren hat, die bestialisch umgebracht wurden, als Mensch, der an der Wiege der lettischen Volksfront gestanden hat, als Abgeordneter des lettischen Parlaments und Gründungsmitglied des parlamentarischen Rates für die Bekämpfung des Antisemitismus will ich heute mehrere schmerzliche Fragen stellen, die besser verstehen lassen werden, ob dieses Paradox ein Zufall ist oder gesetzmäßig.

Erstens: Wie ist es erklärbar, dass die deutschen Faschisten ausgerechnet in Lettland relativ viele Mitläufer bzw. Kollaborateure gefunden haben, die bereit waren, an Stelle der Deutschen und vor allem auf eigene Initiative an der Ermordung und Vergewaltigung ihrer jüdischen Mitbürger, Nachbarn und sogar Freunde teilzunehmen und danach an der Plünderung ihres Hab und Gutes?

Zweite Frage: Wie ist es erklärbar, dass die Mehrheit der Letten sich in völliger Gleichgültigkeit damit abgefunden hat, dass Riga – die Hauptstadt Lettlands und der Stolz des lettischen Volkes – in den Jahren der deutschen Okkupation in einen Friedhof für hunderttausende Opfer des Holocaust verwandelt wurde?

Und die dritte Frage: Wie ist es erklärbar, dass im freien, unabhängigen Lettland die massenhafte Ermordung von Juden in der Zeit zwischen 1941 und 1944 im großen und ganzen durch Verschweigen verdrängt wird, indem man sich auf Deklarationen und Berichte des Parlaments beschränkt und vor dem einzigen Beweis dafür zurückschreckt, daß in Lettland ein neuer Holocaust niemals wiederholbar sein wird, nämlich vor dem läuternden Schuldbekenntnis?

Schließlich ist der gesamten westlichen Welt bekannt, dass 1944 und 1945 aus dem Baltikum 235 000 registrierte Kollaborateure der deutschen Faschisten geflohen sind. Viele von ihnen befinden sich heute in westlichen Ländern und beanspruchen die lettische Staatsbürgerschaft, obwohl bereits vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht viele mit dem SD und anderen faschistischen deutschen Organisationen verbunden waren, die bei den Nürnberger Prozessen zu Kriegsverbrechern erklärt wurden. Diese Läuterung ist nicht gedacht als Tilgung der Schuld gegenüber dem jüdischen Volk, sie ist notwendig für das lettische Volk selber, mit dem ich für mein Leben verbunden bin. Sie ist notwendig vor Gott, der alles mit Entsetzen beobachtet hat und so auch keine wahrhaftigen Worte von Sowjetlettland erwartet hat, sie ist notwendig für ein freies Lettland. Diese Läuterung würde die Achtung vor den Letten erhöhen, die nun nicht mehr voller Unverständnis die Augen niederschlagen müssten, wenn in internationalen Organisationen vom Holocaust in Lettland die Rede ist. Solange das aber nicht geschieht, werden allerhand falsche radikale Führer an die primitivsten Gefühle des lettischen Volkes appellieren und den Fremdenhass schüren können, um die Aufmerksamkeit der Menschen von den wachsenden Alllagsproblemen und den Untaten dieser marktschreierischen Radikalen abzulenken.

Ich will meine Gedanken und meine Antwort zu diesen drei Fragen kundtun. Die Mitläufer der deutschen Faschisten haben sich bemüht, ihre Beteiligung an der Ermordung der Juden damit zu entschuldigen, dass nun mal die Juden die Gewaltherrschaft sowjetischer Okkupanten als hauptsächliche Kraft unterstützt hätten.

Das ist gelogen: Unier den Opfern der Deportationen vom 13. und 14. Juni 1941 waren verhältnismäßig gesehen sechsmal mehr Juden als Letten. Diese Wahrheit müsste endlich in Erinnerung gebracht werden, wenn vom Jahrestag der Deportationen die Rede ist – und nicht verschwiegen werden, wie es bislang der Fall ist. Ich selbst habe 20 nahe Angehörige als Opfer Stalins verloren, und ich verurteile den stalinistischen Terror ebenso scharf wie das Wüten des Faschismus. Trotzdem ist es so, dass die Letten ideologisch nicht nur durch ihre gerechten Rachegefühle gegen den sowjetischen Terror vorbereitet wurden, der Ursprung lag in dem antidemokratischen, autoritären und nationalistischen Regime, das mit dem Umsturz vom 15. Mai 1934 in Lettland gegründet wurde. Die Unduldsamkeit gegen Ausländer und der offene Antisemitismus, die nach der Vernichtung der parlamentarischen Republik aufblühten, verwandelten sich innerhalb von wenigen Stunden in blutige Überfälle auf Juden. Säuglinge wurden getötet, indem man sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug, Frauen wurden vergewaltigt, Menschen massenweise ermordet.

In den ersten sieben Tagen, als die deutsche Herrschaft noch unstabil war, wurden 5000 Menschen getötet, wurden die Synagogen niedergebrannt. Die Liquidierung der Demokratie, die Vernichtung der parlamentarischen Ordnung und das nationalistische Führerprinzip, das an ihre Stelle trat, haben nicht nur die widerstandslose Kapitulation Leitlands im Sommer 1940 möglich gemacht, sondern auch die humanistischen Traditionen zerstört, die die Beziehungen zwischen Leiten und Ausländern geprägt haben und auf die der freie lettische Staat in den 15 Jahren seiner parlamentarischen Existenz zu Recht stolz war. Nur so kann ich mir erklären, dass sich unter den Letten Tausende gleichgültiger und ängstlicher Diener der faschistischen Banden finden konnten, die von den Massenmorden wußten und trotzdem schwiegen. Sie schwiegen zu Hause, auf der Straße und in den Kirchen. Unter diesen Umständen hat lediglich eine Handvoll hervorragender Söhne und Töchter des lettischen Volkes die Ehre Lettlands beschützt, indem sie ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Kinder riskierten und, ohne Entgelt oder einen Gewinn dafür zu erwarten, die Unglücklichen retteten, die der Vernichtung preisgegeben waren. Und wenn wir eines Tages den Orden des Lacplesis (Bärentöter – lettischer Sagenheld, Anm. der Übersetzerin) wieder einführen sollten, dann wären sie es, die diese Auszeichnung verdienen. Sie waren die Trompeter von Talava (sagenhafter lettischer Freiheitskämpfer, Anm. der Übersetzerin) in der Wüstenstille.

Und zuletzt: Lettland erlebt gegenwärtig schlimme Zeiten, und vor uns steht eine schwere Prüfung. Die Gesellschaft Lettlands spaltet sich über die Frage der Staatsbürgerschaft, je nach Auslegung der Geschichte. Ambitionen und politische Intrigen drängen die wichtigsten Fragen des Überlebens in Lettland – die ökonomisch-sozialen und die der Sicherheit – in den Hintergrund. Immer häufiger erschallt aus dem Fernsehen die Warnung, daß es eine Kraft gebe, die hier eine starke Hand herausbilden will, d.h. ein autoritäres Regime wiedererrichten. Aber die größte Gefahr droht aus dem Osten. Unter diesen Umständen ist dieser schmerzliche Gedenktag auch ein Kampftag, indem wir an die Sicherung und Stärkung der Demokratie denken. Aber wie soll für Lettland die Demokratie gesichert werden, wenn auf alle mögliche Art ein autoritäres Regime gerühmt wird?

Es gibt viele Fragen. Aber an dieser Stelle will ich schließen und an folgendes erinnern: Wer die Geschichte verschweigt, bereitet ihre Wiederholung vor.

Foto 1: Eingang des Ghettos Riga – Quelle: ushmm.org. · Foto 2: Ghetto Riga – Quelle: rumbula.org · Foto 3: Warnhinweis – Quelle: ushmm.org. · Foto 4: Portrai Mavriks Vulfsons – Quelle: balticworldwide.com

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