Heinrich List • Ein ganz stiller Held
„Das Schild der Humanität ist die beste, sicherste Decke der niederträchtigsten öffentlichen Gaunerei.“ Johann Gottfried Seume
Heinrich List wurde am 5. Februar 1882 und verstarb am 5. Oktober 1942 im Konzentrationslager Dachau. Er war ein deutscher Landwirt, ein einfacher Mann ohne viele Worte, aber mit dem tiefen Wissen um Menschlichkeit. Heinrich List lebte in Ernsbach, heute Stadtteil der Stadt Erbach im Odenwald. Dort bewirtschaftete er gemeinsam mit seiner Frau Marie ein landwirtschaftliches Anwesen. Er diente als Soldat im Ersten Weltkrieg. Sein Sohn Jakob war Soldat im Zweiten Weltkrieg und wurde 1944 als vermisst gemeldet. Außerdem hatte das Paar noch eine Tochter, Margarethe.
Im November 1941 steht ein Mann vor ihrer Tür und bittet um Hilfe. Ferdinand Strauß ist ein Jude aus dem Nachbarort Michelstadt. Er hat die Aufforderung zur Deportation bekommen. Anstatt sich zu fügen und sich nach Osten „umsiedeln“ zu lassen, will er untertauchen. Für ihn ist ein Konzentrationslager kein abstrakter Begriff: Nach der Pogromnacht im November 1938 hat er bereits einen Monat in Buchenwald verbracht. Diese Pogromnacht war der Beginn der Auslöschung allen jüdischen Lebens in Michelstadt, einer mittelgroßen Stadt im Odenwald, denn die Brutalität gegen jüdischen Mitbürger war in kleineren Gemeinden nicht weniger entwürdigend als in den Hauptzentren jüdischen Lebens in Deutschland. Völlig enthemmt schlugen und traten die SA-Männer auf ihre vormals jüdischen Nachbarn ein, die so meistens seit Kindesbeinen kannten. Der Vorstand der Michelstädter Jüdischen Gemeinde Otto Reichhardt, gehörte zu den Geschäfts- und Handelsleuten, die vor den Augen ihrer Angehörigen aus ihren Wohnungen gezerrt, die Treppe hinunter geworfen und blutig geschlagen worden waren. Das Kaufhaus des Otto Reichhardt und seine Familie war das erste Ziel der Zerstörung und der ‚Empörung’ des Volkes, die sich in Michelstadt gegen eine kleine, aber sehr lebendige jüdische Gemeinde richtete. Über Nacht wurden sie in der kleinen Arrestzelle unten im historischen Rathaus eingesperrt. In der Frühe des 10. Novembers wurden sieben Männer aus Michelstadt auf einem Lastwagen in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar gekarrt. Auf der ‚Veränderungsliste des Konzentrationslagers Buchenwald’ für den 10. November steht ein Transport aus mit 46 Männern aus Michelstadt und aus Erbach mit 31 Männern. Die Namen der beiden Kreisstädte stehen für Sammeltransporte jüdischer Männer aus jeweils mehreren Gemeinden. Am großen Tor mit der zynischen Parole „Jedem das Seine“ kam der Befehl zum Aussteigen. Geöffnet war nur ein kleiner Durchgang für je einen Mann. Lautes, rohes Schreien, Beschimpfungen, Kommando: „Hüte ab!“. Spießrutenlaufen durch zwei Reihen von SS-Männern, Faustschläge, Fußtritte, Schläge mit Schlagringen, Knüppeln, Peitschen. Blutige Köpfe. Keine Wundbehandlung, keine ärztliche Hilfe. Einweisung von 9.845 „Aktionsjuden“ in drei Tagen. Antreten in Zehnerreihen auf dem Appellplatz. Bei der stunden- bis tagelangen Aufnahmeprozedur erhielt jeder seine Häftlingsnummer auf einem kleinen Stoffstreifen: Samuel Hecht (63) wurde in Buchenwald Häftling Nummer 24293; Moses Neu (54 ) Häftling Nummer 24300; Otto Reichhardt (61) Jahre, Häftling Nummer 24298; Louis Rotschild (52) Jahre, Häftling Nr. 24288, Moritz Rotschild (48) Jahre, Häftling Nummer 24291; Emil Straus (59) Häftling Nummer 24292, und Ferdinand Strauss (36 Jahre) Häftling Nummer 24301. Sie waren bis 1933 gestandene Männer, angesehene, ehrenwerte Michelstädter Händler und Kaufleute gewesen; sie hatten bis auf den Jüngsten alle im Weltkrieg für das Deutsche Reich gekämpft. Von diesen ersten Häftlingen gelang es nur Ferdinand Strauss zu flüchten.
Ferdinand Strauß, mit dem Heinrich List seit seiner Jugend eine freundschaftliche Beziehung verband konnte bei ihm auf Hilfe hoffen. Marie List kennt den 39-Jährigen. Sie war Kundin im Textilgeschäft seines Vaters, ihre Schwester war dort angestellt. Sie nimmt den Juden auf. Auch als Heinrich List später von der Feldarbeit nach Hause kommt, gibt es keine Diskussion. Ferdinand Strauß lebt im Haus wie ein normaler Gast. Beim Essen sitzt er mit den Lists gemeinsam am Tisch. Nur wenn Besuch kommt, muss er sich verstecken.
Doch im März 1942 wird er verraten. Ein Pole, der auf dem Hof Zwangsarbeit leisten muss, erzählt einem anderen Bauern von dem Fremden. Der Landwirt weiß, dass die Familien Strauß und List befreundet sind. Misstrauisch informiert er den Dorfbürgermeister. Dieser wiederum meldet den Verdacht, dass Lists einen Juden verstecken, bei der Polizei im Nachbardorf. Im Ort wird erzählt und wie das bei Legenden so ist, bis heute, dass der polnische Zwangsarbeiter der auf dem Hof der Familie List arbeitete, Ferdinand Strauss verriet und damit die Familie List denunzierte. Bis heute konnten die wahren Umstände nicht gänzlich geklärt werden, ob der ‚fremde’ Pole als Sündenbock herhalten musste oder ob er unter erheblichem Zwang seine Aussage machte, das wird wohl nie geklärt werden können. Doch was wir wissen ist, dass die nationalsozialistische Maschinerie bis in die kleinsten, auch ländlichen, Orte ‚bestens’ funktionierte.
Ferdinand Strauß kann rechtzeitig fliehen und entkommt über das Elsass in die Schweiz. Aber Lists geraten ins Visier der Polizei. Nach mehreren Verhören und einer Gegenüberstellung mit dem polnischen Zwangsarbeiter gestehen sie schließlich, einen Juden versteckt zu haben, aus Mitleid. Im Polizeiprotokoll heißt es über Heinrich List, er habe „Ferdinand Strauss bewusst und vorsätzlich der Öffentlichkeit und somit der laufenden Überwachung entzogen“. Der Fall wird von der Ortspolizei an die Gestapo weitergegeben. Marie List erhält lediglich eine Verwarnung. Ihr Mann dagegen wird festgenommen und einige Monate als „Schutzhäftling“ im Gestapo-Gefängnis Darmstadt festgehalten. Von dort wird er ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Obwohl der Ernsbacher Bürgermeister Jakob Bär die Möglichkeit gehabt hätte, List durch Fürsprache vor dem Konzentrationslager zu bewahren, blieb er tatenlos und hielt später sogar ein von Marie List eingereichtes Gnadengesuch zurück. In seinem ersten Brief aus dem Konzentrationslager schrieb List noch hoffnungsfroh:
„Liebe Frau, halte den Kopf hoch, auch dieses wird vergehen. Dein Heinrich“
Doch Heinrich ist zu geschwächt nach der Gestapo-Haft und den Entbehrungen im Dachauer Konzentrationslager. Am 10. Oktober 1942 erhielt Marie List ein offizielles Schreiben des Lagerkommandanten aus Dachau, in dem ihr das Ableben ihres Mannes am 5. Oktober 1942 mitgeteilt wurde, sein Leichnam sei verbrannt worden. Heinrich List sei im Lagerkrankenhaus an den Folgen einer Infektion im Unterschenkel verstorben. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass vor allem Misshandlungen während der Haft und die äußeren Umstände im Lager als Todesursache anzusehen sind.
1992 wurde Heinrich List gemeinsam mit seiner Frau Marie als Gerechter unter den Völkern geehrt. 1993 wurden vom israelischen Botschafter in einer Feierstunde in der wieder aufgebauten Michelstädter Synagoge den Enkeln Heinrich Lists die Medaille und die Ernennungsurkunde überreicht, für zwei Menschen, die ’nur‘ menschlich waren …
In der Stadt Erbach wurde 2002 der Heinrich-List-Weg nach ihm benannt.
Alle Fotos haben die gleiche Quelle: yadvashem.org
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