Die Vernichtung jüdischen Lebens in Lettland nahm riesige Dimensionen an. Um Platz zu schaffen, wurden auf Befehl des HSSPF Ostland, Friedrich Jeckeln, am Rigaer Blutsonntag, circa 27 000 lettische Juden aus dem Ghetto getrieben und im Wald von Rumbula von SS- und Polizeiangehörigen und lettischen Hilfswilligen ermordet. Als die Erschießungen begannen, waren schon 730 Berliner Juden erschossen worden, die mit dem ersten Transport aus dem Reichsgebiet zu dem Zeitpunkt angekommen waren, als man noch nicht wusste, wohin mit ihnen. Aber es gab bereits tausende weiterer deutscher Juden, die in den Güterwagen Richtung Osten waren, bei ihrer Ankunft am Güterbahnhof in Riga musste ein großer Teil von ihnen zu Fuß nach Jungfernhof gehen. Wer das nicht konnte, wurde auf einen LKW geladen und nie wieder gesehen. Im Lager Jungfernhof dauerte es Tage und Wochen, bis die ohnehin nicht ausreichende Ernährung gesichert war. Kälte, Hunger, unbehandelte Krankheiten und der seelische Schock hatten eine hohe Todesrate zur Folge.
Das Konzentrationslager und Vernichtungslager Jungfernhof war ein temporäres, behelfsmäßiges Konzentrationslager im Dorf Jumpravmuiza, etwa drei bis vier Kilometer von Riga entfernt, nahe der Bahnstation Skirotava. Das Lager bestand vom 3. Dezember 1941 bis März 1942 und diente zur vorübergehenden Unterbringung von Juden aus Deutschland und Österreich, deren Transportzüge ursprünglich Minsk zum Ziel hatten, doch wegen des Russlandfeldzugs nach Lettland umgeleitet wurden.
Nachdem das Ghetto in Riga überfüllt war, wurde ein erster Transportzug mit 1.053 Berliner Juden, der die Bahnstation Skirotava am 30. November 1941 erreichte, sogleich im Wald von Rumbula bei Riga ermordet. Die nächsten vier eintreffenden Transporte wurden auf Befehl des SS-Brigadeführers und Befehlshabers der Einsatzgruppe A Walter Stahlecker auf dem leer stehenden Gutshof Groß-Jungfernhof an der Düna untergebracht. Ursprünglich sollte in Jungfernhof ein SS-Gutsbetrieb entstehen. Das im Besitz der SS befindliche Gelände konnte ohne Absprache mit dem Gebietskommissariat sofort genutzt werden und diente nunmehr als Notunterkunft und Zwischenquartier, um Arbeitskräfte zum Aufbau des Lagers Salaspils bereitzustellen. Das ehemalige Staatsgut Jungfernhof, von 200 Hektar Größe, war bebaut mit einem Gutshaus, drei großen Scheunen, fünf kleinen Baracken und verschiedenen Viehställen. Die teils baufälligen und meist unbeheizbaren Gebäude waren für die Aufnahme mehrerer tausend Menschen ungeeignet. Es gab keine Wachtürme oder durchgehende Umzäunung, sondern eine mobile Postenkette von zehn bis fünfzehn lettischen Hilfspolizisten unter dem deutschen Kommandanten Rudolf Seck. Im Dezember 1941 wurden mit vier Zügen insgesamt 3984 Menschen nach Jungfernhof gebracht, darunter 136 Kinder bis zu zehn Jahren und 766 Personen im Rentenalter. 1013 Juden aus Württemberg wurden am 1. Dezember 1941 von Stuttgart aus in das Lager verschleppt. Zur Deportation vom 17. Juni 1943 merkt Maria Zelzer an: „Mit diesem Transport hörte die offizielle Religionsausübung der württembergischen Juden auf. Die jüdische Religionsgemeinde in Stuttgart, seit 1939 die einzige in Württemberg, wurde aufgelöst, ihre Räume samt Mobiliar von militärischen Stellen beschlagnahmt. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland , Bezirk Württemberg und Hohenzollern, aber stand weiter. Ihr Vertrauensmann hatte die Aufgabe, die wenigen Juden zu betreuen, die noch als Partner von Mischehen oder so genannten privilegierten Mischehen in Stuttgart lebten.“ Weitere 964, die am 6. Dezember 1941 deportiert wurden, stammten aus Hamburg, Lübeck und anderen Gemeinden in Schleswig-Holstein. Weitere Transporte kamen aus Nürnberg mit 1008 Personen und Wien mit 1001 Personen.
Ein Überlebender schrieb über die Unterkunft im Lager Jungfernhof: „Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach war auch nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune.“
Rund 800 der Gefangenen starben im Winter 1941/42 an Hunger, Kälte, Typhus und anderen Krankheiten. Die täglich anfallenden 20 bis 30 Leichen konnten wegen des gefrorenen Bodens nicht beerdigt werden. Dies war nach einiger Zeit erst möglich, als ein SS-Mann zwei Löcher in den Boden auf dem Feld sprengte.
Im März 1942 wurde das Lager aufgelöst. Unter einem Vorwand, sie kämen in ein – tatsächlich nicht existierendes – Lager in Dünamünde, wo es bessere Unterkünfte und Arbeitsmöglichkeit in einer Konservenfabrik gebe, wurden zwischen 1600 und 1700 Insassen während der Aktion Dünamünde mit Lastwagen in den nahe gelegenen Wald von Biķernieki gebracht. Dort wurden sie (wie zuvor schon Juden aus dem Ghetto von Riga) am 26. März 1942 erschossen und in Massengräbern verscharrt. Viktor Marx aus Württemberg, dessen Frau Marga und Tochter Ruth erschossen wurden, berichtete: „Im Lager wurde uns gesagt, dass alle Frauen und Kinder vom Jungfernhof wegkämen, und zwar nach Dünamünde. Dort seien Krankenhäuser, Schulen und massiv gebaute Steinhäuser, wo sie wohnen könnten. Ich bat den Kommandanten, auch mich nach Dünamünde zu verschicken, was er jedoch ablehnte, weil ich ein zu guter Arbeiter sei.“
Salomon Carlebach, Überlebender des Lagers Jungfernhof und später Rabbiner in New York, berichtete 1994 in einem Interview über den Augenblick, an dem er seinen Vater zum letzten Mal sah:
„Ich weiß, dass mein seliger Vater in diesem Moment wusste, dass die letzte Stunde gekommen war und dass er in den sicheren Tod gehen würde, obwohl er nichts gesagt hat. Natürlich haben viele der Leute gemeint, dass sie jetzt wirklich in ein anderes Lager gebracht würden, in dem die Umstände viel besser wären.“ Über sein persönliches Schicksal sagte er: „Ohne einen festen Glauben hätte man so etwas gar nicht überleben können.“
Herbert Mai Überlebender des KZ Jungfernhof:
„Ich lief und fragte, was der Grund sei. Sie antwortet nicht. Da fragte ich sie noch einmal. Sie sagte, der Papa sei fort. ,Wo?‘ ,Im Rigaer Getto‘, gab sie mir zur Antwort. Getto – das war zu der Zeit der Tod, und ich wusste, er ist schon tot, und meine Mutter wusste es auch. Wir gingen in eine Ecke und weinten, aber es half nichts; wir mussten wieder an die Arbeit.“
Später, als auch Herbert Mai und seine Mutter und die übrigen Jungfernhof-Gefangenen ins Getto mussten, trafen sie den Vater wieder. Er hatte, wie durch ein Wunder, überlebt. Doch die Hoffnung, dass die Familie den Horror der Naziherrschaft überstehen könnte, trog. Die Nazis ermordeten schließlich Herberts Eltern.
Von den rund 4.000 Menschen, die nach Jungfernhof verschleppt worden waren, überlebten nur 148 Personen.
Dieser Transport bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Einmal war mit ihm ungefähr die Hälfte der noch in Hamburg lebenden Juden in den Osten deportiert, zum anderen waren die Illusion einer Umsiedlung mit einer neuen Perspektive, der Glaube an einen Arbeitseinsatz zum Aufbau der neu besetzten Ostgebiete, die Hoffnung auf eine neue Existenz nach der Evakuierung verflogen. Weil fast alle Deportierten unter 60 Jahre alt waren, hatten die in Hamburg Verbliebenen noch geglaubt, dass sie tatsächlich für die Aufbauarbeiten in den besetzten Ostgebieten eingesetzt würden. Als dann aber nach den Postkarten, die noch in den Zügen geschrieben worden waren, keine Lebenszeichen mehr kamen, wuchsen die Zweifel. Auch als sich herumsprach, dass die von der jüdischen Gemeinde bereitgestellten Lebensmittel und Medikamente und komplette Großküchen (ganze Güterwagenladungen) z.T. gar nicht mitgekommen waren, die sorgfältig gepackten und beschrifteten Gepäckstücke gefleddert wurden, wuchsen Angst und Verzweiflung angesichts weiterer drohender „Umsiedlungen“.
Dokumentation der Erlebnisse des Überlebenden Herbert Mai aus Würzburg
Foto 1: Vernichtungsstätte Jugendhof – Quelle: imageshack.us · Foto 2: Ankunft in Jungfernhof – Quelle: wdict.net · Foto 3: Opfer der Vernichtung – Quelle: mahnung-gegen-rechts.de · Foto 4: Holocaust Memorial Lettland – Quelle: xioupmedia.com
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