Nelly Sachs ✡ Literaturnobelpreis 1966
„Es gibt Leiden, derer sind nur die fähig, die ihrer würdig sind.“ Maurice Blondel
Am Leben und in den Arbeiten von Nelly Sachs erkennt man, dass das Überleben der Zeit des Holocausts genauso viel Leid beinhaltet, wie das Leid der Millionen Menschen, die die Schrecken der Shoah in den Gaskammern der Vernichtungslager erlebten.
Dies Weiterleben als Bürde zu betrachten und deutlich zu spüren, was einen Seelenmord ausmacht, kann man noch heute in den Werken von Nelly Sachs nachlesen und so auch nachspüren. Es zeigt uns auf erschreckende Weise, mit welchen Qualen Überlebende zu kämpfen hatten und haben, macht uns aber auch deutlich, wie selten wir uns Gedanken über diese Menschen mit ihren zum Teil toten Seelen machen und machten. Wenn wir dann sagen, dass diese Menschen ‚Glück’ hatten diese Zeit des absoluten Schreckens überlebt zu haben, erahnen wir nicht im geringsten, was dieses Weiterleben für jeden einzelnen wirklich bedeutet. Auch das sensibelste Nachspüren um die Erfahrung dieser Menschen, bleibt bei uns nur im Erahnen haften, doch auch dem müssen und sollten wir uns stellen, nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, um gegen jegliches Leid gegen andere anzugehen. Das schriftstellerische Erbe der Nelly Sachs ist dafür ein gutes Fundament. Sie wurde am 10. Dezember 1891 in Berlin geboren und wuchs wohlbehütet im Kreis der jüdischen Familie des Fabrikanten William Sachs auf. Die Familie Sachs lebte eher zurückgezogen in einem großbürgerlichen Milieu, das ‚Rampenlicht’ einer tonangebenden Gesellschaft war nicht ihre Welt, so wuchs auch Nelly in einem sehr stabilen Umfeld auf, dass eher wert auf die Werte des Menschen selbst legte, als auf den Status, den beruflicher Erfolg mit sich bringen würde. Nelly war kein rebellisches Kind, eher verhalten, nachdenklich und oft auch kränklich; so entwickelte sie nie Ambitionen selbst berufstätig zu werden, sondern fügte sich, auch ohne das näher zu reflektieren, in die Rolle der ‚Höheren Tochter’ und beendete ihre schulische Laufbahn mit der Mittleren Reife. Als sie 15 Jahre alt war, las sie den Debütroman ‚Gösta Berlin’ von Selma Lagerlöf und war so begeistert, dass sie mit der Autorin in Briefkontakt trat. Daraus entwickelte sich eine Brieffreundschaft, die erst mit dem Tod der Selmas endete.
Es war auch Selma Lagerlöf, die der jungen Nelly Mut machte, selbst zu schreiben, ihre ersten Gedichte schrieb sie mit 17 Jahren. Zwar waren diese ersten Gedichte von leichter Melancholie geprägt, doch der romantische Gedanke war vordergründig spürbar, ihre Hauptmotive drehten sich um die Natur und die Musik, der Mensch selbst kam hier noch nicht vor. Mit Unterstützung von Stefan Zweig veröffentlichte Nelly, eigentlich Leonie, ihren ersten Gedichtsband unter dem Titel ‚Legenden und Erzählungen’ 1921. Sie bekam durchweg positive Kritik und auch in den folgenden Jahren wurden ihre Gedichte und Erzählungen in den verschiedensten Zeitungen veröffentlicht. Einen großen Einschnitt im Leben von Nelly Sachs war der Tod des Vaters 1930, sie und ihre Mutter zogen aus der Familienvilla aus und bewohnten nun eine große Wohnung in einem der eigenen Mietshäuser in der Nähe des Tiergartens in Berlin. Das zurückgezogene Leben behielten die Damen bei, was mit dem Aufstreben der Nationalsozialisten auch ein Vorteil war. Erst in dieser Zeit wurde Nelly Sachs deutlich bewusst, dass sie Jüdin war, eine Tatsache, die ihr natürlich bewusst war, doch hatte sie sich bis dahin nie mit ihrem Glauben auseinander gesetzt. Das änderte sich nun, verständlicher Weise. Häufig musste sie bei der Gestapo vorstellig werden, nachdem die Nationalsozialisten an der Regierung waren, es ging um Berufsverbote und um Vermögensaufstellungen des Besitzes der Familie Sachs. Häufiger erzwang sich die SA zutritt zu der Wohnung der beiden Frauen, demütigten diese und plünderten die Wohnung. So setzte sie sich gezwungenermaßen mit ihrer jüdischen Herkunft auseinander; sie bekam zu Beginn des Krieges Martin Bubers ‚Erzählungen der Chassidim’ zu lesen und fand darin vertrautes mystisches Gedankengut wieder, das ihr Kraft gab. Es ging ihr und ihrer Mutter, wie so vielen Juden in Deutschland, sie konnten gar nicht glauben, dass sie in diesem Land nicht erwünscht waren, an ihre physische Vernichtung konnten sie gar nicht denken. Zwar waren sie Juden, doch sie waren Deutsche und mit diesem Land, dessen Geschichte und Tradition tief verwurzelt. Ein Pogrom in Deutschland war für die nicht vorstellbar, noch sahen sie das Treiben der Nationalsozialisten als ‚Einzeltaten’ an. So entschloss sich Nelly Sachs auch erst spät für eine Flucht aus Deutschland. Buchstäblich im letzten Moment gelang es Nelly und ihrer Mutter nach Schweden zu entkommen, denn der Befehl für den Abtransport in ein Lager war bereits eingetroffen. Am 16. Mai 1940 stiegen Nelly Sachs und ihre Mutter aus dem Flugzeug in Stockholm. In Schweden lebten die beiden Frauen unter ärmlichen Verhältnissen in einer Einzimmerwohnung im Süden Stockholms. Nelly Sachs kümmerte sich um ihre alte Mutter und arbeitete zeitweise als Wäscherin, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Sie begann Schwedisch zu lernen und moderne schwedische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen. Ihre eigene Poesie entwickelte sich während der Kriegsjahre völlig weg vom früheren romantischen Stil.
Kriegsjahre völlig weg vom früheren romantischen Stil. Die Gedichte von 1943/1944, die später in der Sammlung ‚In den Wohnungen des Todes’ erscheinen sollten, enthalten Bilder von Schmerz und Tod, sind eine einzige Todesklage für ihr gequältes Volk. Neben den Gedichten entstanden in den 1940er Jahren die zwei Dramen ‚Eli’ und ‚Abram im Salz’. Unter diesen Umständen gelangte sie zu einer gesteigerten Poetologie des Schmerzes, genauer: zu einer grundlegenden Umformung ihrer bisherigen Sprache. Das Nichts der Vernichtung ist förmlich versprachlicht, die Wunde das poetologische Modell, „… meine Metaphern sind meine Wunden …,“ so sagte sie selbst. Mit immer neuer Schaffenskraft und vorerst mit unsicherem Erfolg schrieb Nelly Sachs in den folgenden 20 Jahren immer neue lyrische und dramatische Entwürfe aus der Katastrophe des Holocaust heraus. Tragödien des Leidens, aber auch des Überlebens, der Schuld des Überlebens, an der Paul Celan, ein guter Freund von Nelly Sachs, 1970 zerbrach. Erst in den späten 1950er-Jahren wurden Schriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland wie Peter Hamm, Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger auf sie aufmerksam. Enzensberger, damals Lektor bei Suhrkamp, realisierte ab 1961 Ausgaben der Gedichte und Dramen, die ihre Bedeutung festigten. Der einsetzende Erfolg, insbesondere ihre Reise nach Deutschland 1960 zur Entgegennahme des Droste-Preises in Meersburg und ihre Treffen mit Celan in Zürich sowie Andersch im Tessin überforderten sie allerdings. Nach ihrer Rückkehr nach Stockholm erlitt sie einen heftigen psychotischen Schub und verbrachte die Jahre bis 1963 wiederholt in Nervenkliniken, geplagt von der wahnhaften Vorstellung von ‚Verfolgern’, die sie auch als ‚Nazi Spiritist Liga’ bezeichnete und die in ihrem Haus ein Kommunikationszentrum hätten: „Meine Wohnung war das Telegraph-Zentrum mit Morsezeichen und allen Finessen. Ich habe versprochen, darüber zu schweigen, und werde es auch tun. Aber diese Wohnung ist mir ein solcher Schrecken geworden, dass ich darin nicht mehr verbleiben kann.“ Auch diesem neuen Leiden der Krankheit, die anfangs mit Elektroschocks behandelt wurde, hielt Nelly Sachs das Schreiben entgegen. In ihrem autobiografischen Lebensgedicht ‚Die Suchende’ von 1966 verbalisierte sie diese veränderte Poetologie des Schmerzes aus dem Wahn:
Wo sie steht
ist das Ende der Welt
aber Träume und Visionen
Wahnsinn und die Schrift der Blitze
diese Flüchtlinge von anderswo her
warten bis Sterben ist geboren
dann reden sie.
In ihren letzten Lebensjahren stand dieses schöpferische Ankämpfen gegen die ‚Verfolgung’ neben immer größeren Ehrungen, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1965 folgte 1966 der Nobelpreis für Literatur.
Doch selbst nach der Verleihung des Nobelpreises 1966, den sie zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon erhalten hatte, wussten die deutschen Medien nicht viel über ihr Werk zu berichten; der Großteil der Pressestimmen reduzierte sich auf die Beschreibung ihres Äußeren. Erstaunlich ist immer wieder, wie wenig Aufmerksamkeit ihrem Werk zuteil wird. Zwei Jahre nach ihrem Tod, als Heinrich Böll den Nobelpreis für Literatur bekam, wurden in der deutschen Presse dessen Vorgänger Thomas Mann und Hermann Hesse genannt, von Nelly Sachs war schon damals nicht mehr die Rede. Obwohl Mann und Hesse die Staatsbürgerschaft ihres amerikanischen und schweizerischen Emigrationslandes angenommen hatten, blieben sie für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik deutsche Schriftsteller. Nelly Sachs hingegen, deren Herkunft in den Nachkriegsjahren beim deutschen Publikum Schuldgefühle evozierte, dessen persönliches und literarisches Leben vom Holocaust geprägt war, schien nicht dazuzugehören. Die ‚deutsche Realitätsflucht’ nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie Hannah Arendt in dem Aufsatz Besuch in Deutschland beschreibt, machte aus der deutschen Dichterin im schwedischen Exil eine jüdische, um sich vor der unmittelbaren politischen Verantwortung zu drücken.
Doch die Texte von Nelly Sachs sind von solcher Seelendichte, die so intensiv von Verfolgung und Leid geprägt waren, sollten uns auch heute noch zu Herzen gehen.
Bild 1: Nelly Sachs 1910 – Quelle: wikimedia.org · Bild 2: Buchtitel Nelly Sachs II – Quelle: buecher.de · Bild 3: Buchtitel Nelly Sachs – Quelle: amazon.com · Bild 4: Briefmarke Nelly Sachs – Quelle: wikimedia.org
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