Die Novemberpogrome 1938 waren das Fanal für den späteren Holocaust, das sich wie ein Menetekel seit den letzten fünf Jahren abzeichnete. Die Drangsalierungen, Enteignungen oder Entrechtungen fanden in diesen zwei Tagen ihre sichtbare, grausame Fratze; von der nun keiner in Deutschland mehr sagen konnte, dass er davon keine Kenntnis hatte. Bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch (Reichs-)Kristallnacht oder Reichspogromnacht genannt, waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich, landauf – landab.
Dabei wurden vom 7. bis 13. November 1938 etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Über 1.400 Synagogen, Bet-Stuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden geschändet beziehungsweise zerstört. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, von denen Hunderte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. Die Pogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in der Shoah an den europäischen Juden im Machtbereich der Nationalsozialisten mündete.
Mit einem kurzen Blick vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Politik der Jahre zuvor, die dann in dieser inszenierten Eskalation mündete: Am 17. August 1935 hatte die Gestapo die Einrichtung einer reichsweiten „Judenkartei“ angeordnet, um die deutschen Juden regional und lokal zu erfassen und zu überwachen. Am 28. März 1938 entzog ein Gesetz den Israelitischen Kultusgemeinden den Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Das degradierte sie zu Vereinen ohne öffentliche Rechtsansprüche, deren Gebäuden kein staatlicher Schutz mehr zustand. Nach der Dritten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. Juni 1938 konnte angeordnet werden, dass jüdische Betriebe „von einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt ab ein besonderes Kennzeichen” führen mussten. In Berlin wurden jüdische Geschäftsinhaber noch im selben Monat angewiesen, ihre Namen in weißen Buchstaben am Schaufenster anzubringen. Die Zerstörung und Plünderung während der Pogromnacht wurde dadurch erleichtert. Zum Jahrestreffen des Allgemeinen Rabbinerverbandes in München am 8. Juni 1938 erhielt die dortige jüdische Gemeinde den Befehl, die Synagoge nebst Gemeindehaus dem Staat abzutreten und binnen 24 Stunden zu räumen. Am Morgen des 9. Juni begann der Abriss. Im August wurde auch die Nürnberger, ab September die Dortmunder Synagoge abgerissen. Das Reichssicherheitshauptamt forderte Listen vermögender Juden von Finanzämtern und Polizeirevieren an. Diese zwangen die jüdischen Rabbiner per Vorladungen dazu, Namen Es bedressen ihrer Gemeindemitglieder weiterzugeben. Am 14. Juni mussten jüdische Gewerbebetriebe sich registrieren lassen, am 15. Juni ließ Kurt Daluege als Chef der Berliner Polizei etwa 1.500 Juden bei Razzien festnehmen und in KZs bringen. Juden mussten seit dem 23. Juli 1938 zudem „Kennkarten“ bei sich tragen, seit dem 17. August die Zweitnamen „Israel“ (Männer) oder „Sara“ (Frauen) annehmen und seit dem 5. Oktober ihre Sonderausweise mit einem roten J abstempeln lassen. Diese Kennzeichen ermöglichten einerseits schnelle Verhaftung und Deportation, andererseits flächendeckende Enteignung Es bebschiebung der Juden. Bis Oktober 1938 wurden die drei bisher größten deutschen KZs in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen stark ausgebaut, so dass sie nunmehr zehntausende Gefangene aufnehmen konnten. Obwohl in Dachau bis dahin keine Juden inhaftiert waren, erhielt die Lagerleitung dort am 25. Oktober den Befehl, 5.000 Judensterne auf Häftlingskleider zu nähen. Zusätzliche Matratzen und Stroh wurden angeliefert.
Am 3. November erfuhr der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dass auch seine ganze Familie nach Zbąszyń vertrieben worden war. Er besorgte sich einen Revolver und schoss damit am 7. November 1938 in der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Dieser erlag am 9. November seinen Verletzungen. Grynszpans genaues Motiv ist unbekannt. Er gab im Verhör „Rache“ für das Leiden seiner Eltern bei deren gewaltsamerbebschiebung an. Er wollte eigentlich den Botschafter erschießen, traf dann aber vom Rath. 1942 in deutscher Haft sagte er aus, er habe sein Opfer zuvor in der Pariser Homosexuellenszene kennen gelernt. Daraufhin ließ Propagandaminister Joseph Goebbels den jahrelang geplanten Schauprozess gegen ihn, der das „Weltjudentum“ als angeblichen Auftraggeber des Mords „beweisen“ sollte, verschieben. Schließlich sagte Hitler den Prozess ganz ab. Grynszpan wurde vermutlich im KZ Sachsenhausen umgebracht. Die NS-Führung benutzte das Attentat als willkommenen Anlass, um der unzufriedenen Parteibasis Gelegenheit zum Handeln gegen jüdisches Eigentum zu geben und die Juden beschleunigt dann auch gesetzlich aus dem deutschen Wirtschaftsleben auszuschalten.
Noch am 7. November gab das Deutsche Nachrichtenbüro, eine zentrale Institution der Presselenkung im NS-Staat, eine Anweisung heraus, die Meldung über das Attentat sei in allen Zeitungen „in größter Form herauszustellen“ und es sei besonders „darauf hinzuweisen, dass das Attentat die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss“. Die Nachricht vom Attentat auf den zuvor weitgehend unbekannten Diplomaten vom Rath erreichte die deutsche Öffentlichkeit erst am 8. November 1938 durch die Tagespresse. Bereits am Spätnachmittag des 7. November begannen jedoch in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt die ersten Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen, Geschäfte, Gemeindehäuser und Synagogen. Die Täter waren Angehörige von SA und SS. Sie traten in Zivilkleidung auf, um wie normale Bürger zu wirken und die übrige Bevölkerung zum „Volkszorn“ wegen des Attentats in Paris aufzuhetzen.
Im Leitartikel des Völkischen Beobachters stand:
Hitler hatte vom Rath sofort nach dem Attentat um drei Klassen zum Botschaftssekretär I. Klasse befördert. Am 9. November nahm er nach dem Gedenkmarsch für den Hitler-Ludendorff-Putsch an einem Essen einem Kameradschaftsabend der Parteiführung mit Alten Kämpfern im elten Rathaus in München teil. Dort erfuhr er die Nachricht vom Tod des Diplomaten. Sofort besprach er sich während des Essens mit dem gleichfalls anwesenden Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Dann verließ er die Versammlung, fuhr in seine Privatwohnung und hielt sich in den folgenden Tagen nach außen hin zurück. Goebbels machte anschließend gegen 22.00 Uhr vor den versammelten Partei- und SA-Führern die Nachricht bekannt. Er benutzte den Tod zu einer antisemitischen Auslegung des Attentats, in der er „die Jüdische Weltverschwörung“ für den Tod vom Raths verantwortlich machte. Er lobte die angeblich „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien, und verwies dazu auf Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Er äußerte, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten wolle, aber diese dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies als indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum organisierten Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Nach Goebbels‘ Rede telefonierten sie gegen 22:30 Uhr mit ihren örtlichen Dienststellen. Danach versammelten sie sich im Hotel „Rheinischer Hof“, um von dort aus weitere Anweisungen für Aktionen durchzugeben. Goebbels selbst ließ nach Abschluss der Gedenkfeier nachts Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese wiederum gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter, in denen es etwa hieß:
Der Chef der Gestapo-Abteilung für Regimegegner, Heinrich Müller, sandte um 23:55 Uhr ein Blitzfernschreiben an alle Leitstellen der Staatspolizei im Reich: Die Sicherheitsdienste sollten sich heraushalten:
„Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.“
Polizei und SS waren demnach eine Stunde nach der SA über die angeordneten Pogrome informiert, die seit 23:00 begonnen hatten. Sie sollten diese zu der längst geplanten Internierung wohlhabender Juden nutzen. Nachdem Himmler neue Rekruten der Waffen-SS vereidigt hatte, erteilte er die „näheren Anordnungen“ Heydrich, der diese um 1:20 Uhr seinerseits als Blitzfernschreiben an alle Untergebenen sandte. Darin bekräftigte er das Verbot zu plündern, den Schutz für Nachbargebäude vor Bränden und ergänzte, dass Ausländer, auch jüdische nicht zu belästigen seien. Die Zahl der Festzunehmenden ließ er offen:
„Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.“
Die Leitung der Zerstörungen oblag den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. Sie beriefen die SA-Ortsgruppen ein, die ihre Mitglieder instruierten und in Marsch setzten, um die Befehle auszuführen.
In Nürnberg z.B. wurden sie wie in den meisten deutschen Städten nach Augenzeugenberichten wie folgt umgesetzt: „Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran; mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen, und der am Abend bereits verständigte Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus. Dann ging es in die von Juden bewohnten Häuser. Schon vorher informierte nichtjüdische Hausbewohner öffneten die Türen. Wurde auf das Läuten die Wohnung nicht sofort geöffnet, schlug man die Wohnungstür ein. Viele der ‚spontanen‘ Rächer waren mit Revolver und Dolchen ausgestattet; jede Gruppe hatte die nötigen Einbrecherwerkzeuge wie Äxte, große Hammer und Brechstangen dabei. Einige SA-Leute trugen einen Brotbeutel zur Sicherstellung von Geld, Schmuck, Fotos und sonstigen Wertgegenständen, die auf einen Mitnehmer warteten. Die Wohnungen wurden angeblich nach Waffen durchsucht, weil am Tage vorher ein Waffenverbot für Juden veröffentlicht worden war. Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder mit den Dolchen zerschnitten, Betten, Schuhe, Kleider aufgeschlitzt, es wurde alles kurz und klein geschlagen. Die betroffenen Familien hatten am Morgen des 10. November meistens keine Kaffeetasse, keinen Löffel, kein Messer, nichts mehr. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert, Wertpapiere und Sparkassenbücher mitgenommen. Das schlimmste dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen oft ebenso misshandelt wurden wie die Männer. Eine Anzahl von Männern wurde von den SA-Leuten unter ständigen Misshandlungen und unter dem Gejohle der Menge zum Polizeigefängnis getrieben. […] Am anderen Morgen wurden gegen 4 Uhr morgens alle [der zuvor inhaftierten] Personen unter 60 Jahren nach Dachau abtransportiert.“
Die unmenschliche Behandlung der in das KZ Buchenwald Eingelieferten beschrieb detailliert z. B. der Augenzeuge Eugen Kogon. Sie mussten etwa im folgenden Winter mit bloßen Händen den Schnee im Lager räumen; Notamputationen der erfrorenen Gliedmaßen verweigerte der SS-Lagerarzt: „Für Juden stelle ich nur Totenscheine aus.“ Gemäß der offiziellen Version wurde die Deportation in die KZs der Bevölkerung als „Wiederherstellung der Ordnung“ dargestellt, um „den Volkszorn in staatliche Bahnen zu lenken“.
Parallel dazu ließ Goebbels im Rundfunk seit dem frühen Morgen des 10. November in halbstündigen Intervallen die Aufforderung verbreiten, „von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen sofort abzusehen.“ Dennoch kam es in kleineren Orten bis zum 11., vereinzelt sogar bis zum 12. und 13. November noch zu Ausschreitungen; sei es aus einer Eigendynamik heraus, sei es, weil die Radionachricht nicht empfangen worden war oder ignoriert wurde.
Polizisten kümmerten sich nicht um die tätlichen Übergriffe auf die jüdischen Mitbürger, sie sahen weg. Feuerwehrleute löschten keine Brände, sondern ließen Gebäude niederbrennen. Nachbarn halfen nicht, sondern schwiegen und sahen weg. ‚Normale’ Bürger entwickelten sich zum Mob und plünderten ganz ohne Reue. Die Menschen, die mit dieser Entwicklung nicht völlig einverstanden waren – diese zogen sich schweigend zurück.
Doch eins ist völlig gewiss: Ob in der Großstadt, einer Kleinstadt oder im ländlichen Raum, ganz gleich wo jemand zuhause war, jeder wusste nun Bescheid. Aus dieser Verantwortung konnte und kann sich keiner herausreden.
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