Białystok • Auslöschung allen jüdischen Lebens

Białystok • Auslöschung allen jüdischen Lebens

Białystok war die osteuropäische Stadt mit dem höchsten Bevölkerungsanteil jüdischer Bürger. Eine 1931 durchgeführte Volkszählung ergab eine Bevölkerung von rund 91.000 Personen, von denen 43 %, also fast 40.000 Menschen, jüdischer Abstammung waren. Bei Kriegsausbruch am 1. September 1939 war die jüdische Bevölkerung auf rund 50.000 Personen angewachsen. Die jüdische Gemeinde war die größte in Polen. Es gab ein reiches jüdisches Kulturleben: jüdische Schulen und Theater, Museen und Bibliotheken. Białystok war eine lebendige recht wohlhabende Stadt, im friedlichen Miteinander.


Am 15. September 1939 eroberte die deutsche Wehrmacht die Stadt, die aber nach der sowjetischen Besetzung Ostpolens 1939 gemäß den Vereinbarungen im geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes für die folgenden 21 Monate Teil der sowjetischen Besatzungszone wurde. Der jüdischen Bevölkerung ging es nicht gut unter dem sowjetischen Regime, doch das war von geringerer Bedeutung, als das was passierte als die Deutschen wieder einmarschierten, nachdem Überfall auf die Sowjetunion. Der Tag der deutschen Besetzung, der 27. Juni 1941, wurde in der jüdischen Gemeinde als „Roter Freitag“ bekannt. Das deutsche Polizeibataillon 309 unter Oberstleutnant Ernst Weis versammelte sich an der Großen Synagoge im jüdischen Viertel und trieb Einwohner in die Synagoge, um sie anschließend in Brand zu setzen. Mindestens 700 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib, insgesamt kamen in den ersten zwei Wochen der deutschen Besatzung 4.000 jüdische Einwohner durch Übergriffe oder Massenerschießungen unter anderem auf direkten Befehl von SS-Führer Himmler ums Leben, der die Stadt mit Adolf Eichmann am 8. Juli 1941 besucht hatte.

Das Ghetto von Białystok

Zwei Tage nach Beginn der Besatzung zitierte der Militärkommandant den Oberrabbi Dr. Gedaliah Rosenmann und den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Efraim Barasz zu sich und befahl ihnen, einen Judenrat zu bilden. Er bestand aus 12 Personen des öffentlichen Lebens. Einen Monat später wurde schon ein neuer Judenrat gebildet, der doppelt so viele Personen umfasste und von Barasz geleitet wurde. Am 1. August 1941 wurde ein Ghetto eingerichtet, das sich auf zwei kleine Gebiete erstreckte, die durch den Biala-Fluss geteilt waren. Das Ghetto war von einem Stacheldrahtzaun und einem Holzzaun umgeben. Wie auch in anderen Ghettos war das Gebiet viel zu klein, und zwei oder drei Familien mussten sich ein kleines Zimmer teilen. Bis zum 15. August 1941 stand das Gebiet Bialystok unter Militärverwaltung.


Danach wurde es Ostpreußen zugeordnet und unterstand der Zivilverwaltung von Erich Koch in seiner Eigenschaft als Oberpräsident von Ostpreußen. Ein Erlass befahl allen Juden, sich registrieren zu lassen und gelbe Abzeichen auf der Vorder- und Hinterseite der Kleidung zu tragen. Weitere diskriminierende Vorschriften wurden erlassen. Man beschlagnahmte sämtliches jüdisches Vermögen außerhalb des Ghettos. Nahrungsmittellieferungen an die Ghettojuden wurden eingeschränkt. Alle arbeitsfähigen Juden zwischen 15 und 65 wurden nun für Zwangsarbeiten bestimmt. Zwischen dem 18. und 21. September 1941 brachten die Deutschen 4.500 kranke und arbeitslose Juden in das Ghetto Pruzhany, 100 km südlich der Stadt. Die meisten von ihnen wurden bei der Liquidierung dieses Ghettos Ende Januar 1943 ermordet. Das Ghetto wurde schnell in ein industrielles Zentrum verandelt. Es gab Fabriken, die dem deutschen Industriellen Oskar Steffen gehörten. Die meisten Juden arbeiteten in etwa 10 Fabriken oder anderen, kleineren Betrieben im Ghetto, eine kleinere Anzahl aber außerhalb des Ghettos in diversen deutschen Unternehmen.

Die Nahrungsmittelversorgung durch die deutsche Verwaltung war bestenfalls unregelmäßig. Nur der Schmuggel von Nahrung verhinderte ein massenhaftes Verhungern. In kleinen, verborgenen Ghettobetrieben produzierten die Juden Waren, die sie dann gegen Nahrung von außerhalb eingetauscht wurde. Der Judenrat veranlasste, dass Obst- und Gemüsegärten auf verlassenen Grundstücken im Ghetto angelegt wurden um den Hunger zu mildern.

Der Judenrat war auch wichtiger Arbeitgeber für mehr als 2.000 Menschen, die in Krankenhäusern, Apotheken, Schulen, einem Gericht und anderen Einrichtungen beschäftigt waren.


Ein Jüdischer Ordnungsdienst mit 200 Männern wurde ebenfalls vom Judenrat organisiert. Während des Jahres 1942 versuchten die verschiedenen Splittergruppen der jüdischen Jugendbewegung, eine gemeinsame Front für einen bewaffneten Kampf gegen die Deutschen zu bilden. Im August 1942 entstand dann der „Block Nr.1“ oder auch „Front A“ genannt, eine Untergrundbewegung aus Kommunisten, den sozialistischen „Bundisten“ und Zionisten der „Ha-Shomer ha-Tsa’ir“, geleitet von Edek Borak. Im November 1942 kam Mordechai Tenenbaum vom Warschauer Ghetto nach Bialystok, um den Widerstand zu unterstützen. So entstand der „Block Nr.2“, der alle noch verbliebenen Widerstandskämpfer vereinigte. Auf Tenenbaums Initiative und von Barasz unterstützt, wurde ein Geheimarchiv eingerichtet, das man außerhalb des Ghettos verbarg. Die darin verwahrten Dokumente waren ein unschätzbares Dokument über die Existenz des Ghettos. Barasz stellte Tenenbaum große Geldsummen für die Beschaffung von Waffen zur Verfügung, die man von der polnischen Untergrundarmee „Armia Krajowa“ (Heimatarmee) besorgen wollte, allerdings ohne Erfolg.

Die Aktion Reinhard

Am 11. Oktober 1942, als man schon die Aktion Reinhard spürte aber noch nicht recht daran glauben wollte, wandte sich Efraim Barasz (s.Bild) an seine Ratsmitglieder und die Leiter der Ghettobetriebe: „Es ist unbedingt erforderlich, dass wir Mittel und Wege finden um die Gefahr aufzuschieben oder wenigstens ihre Auswirkungen zu reduzieren.“ Derartige Illusionen sollten jedoch bald zerstört werden. Zu dieser Zeit, als es noch mehr als 41.000 Juden im Ghetto Bialystok gab, erließ das RSHA den Befehl zur Liquidation aller Ghettos im Bezirk Bialystok und Deportation der darin lebenden Juden. Nur durch die Intervention militärischer und ziviler deutscher Stellen, die nicht auf die wertvollen jüdischen Zwangsarbeiter verzichten wollten, wurde die Auflösung des Ghettos in Bialystok noch einmal verschoben. Die Aufschiebung war nur kurz. Zwischen dem 5. und 12. Februar 1943 fand eine erste „Aktion“ im Ghetto statt, bei der 2.000 Juden erschossen und 10.000 in 5 Transporten nach Treblinka in den Tod geschickt wurden. In der Nacht zum 16. August 1943 umzingelten deutsche Polizei, SS und ukrainische Hilfstruppen, den so genannten Trawniki das Ghetto. Barasz wurde zur Gestapo zitiert und darüber informiert, dass die Ghettobewohner nach Lublin gebracht werden sollten. Am Morgen konnten die Juden die Anordnung zur Deportation an den öffentlichen Plätzen lesen. Während zehntausende Juden nun zum vorgeschriebenen Sammlungsort in der Jurowiecka-Straße strömten, begann der Untergrund zu revoltieren. Dies war nicht der erste Akt von Widerstand, denn zur Zeit der Deportationen im Februar 1943 war „Block Nr.1“ bereits aktiv geworden. Damals hatten die Untergrundkämpfer erhebliche Verluste erlitten bei vergebenen Versuchen eines bewaffneten Widerstandes. Borak wurde damals gefangen und nach Treblinka gebracht. Nun begann jedoch ein verzweifelter, bewaffneter Kampf gegen die Deutschen.

Der blutige Widerstand Białystok


Um 10 Uhr vormittags wurden die einzelnen Widerstandszellen bewaffnet und nahmen ihre Positionen ein. Ein Plan sah vor, dass man an der Smolna-Straße den Ghettozaun durchbrechen und in die umliegenden Wälder fliehen wollte. Während der folgenden fünf Tage entwickelte sich nun ein ungleicher Kampf zwischen den unzureichend bewaffneten und zahlenmäßig unterlegenen Widerständlern und deutschen Verbänden, die sogar durch Panzerfahrzeuge unterstützt wurden. Der Durchbruch durch den Zaun war nicht möglich. So zogen sich die Widerständler in einen Bunker in der Chmielna-Straße zurück, der aber am 19. August von den Deutschen entdeckt wurde. 71 Kämpfer wurden erschossen, einer überlebte. Am folgenden Tag, als auch die letzten Widerstandsnester vernichtet worden waren, starben Tenenbaum und Daniel Moskowicz, die gemeinsam den Aufstand geleitet hatten. Möglicherweise starben sie durch eigene Hand. Es ist viel geschrieben worden über den Warschauer Ghettoaufstand, doch nicht über den genauso tapferen jüdischen Widerstand im Ghetto Białystok. Die Deportationen begannen am 18. August und dauerten drei Tage. 7.600 Juden wurden nach Treblinka gebracht, tausende nach Majdanek, wo sie einer Selektion unterzogen wurden. Die Kräftigen schickte man weiter in die Zwangsarbeitslager Poniatowa, Blizyn oder nach Auschwitz.

Chaika Grossman (s. Bildmitte), eine der vielen weiblichen Widerstandskämpferinnen, erinnert sich: „Ich drängte mich durch die Massen, auf dem Weg in die Ciepla-Straße. Woran dachte ich in diesem Moment? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich schrecklich beeilte, weil die letzten Minuten angebrochen waren. Plötzlich sah ich meine Mutter in der Menge. Ich wollte mich an ihr vorbei stehlen, ohne anzuhalten. Ich hatte Angst davor, sie zu sehen, sie auf dem Sammelplatz zu sehen. Ich hatte Angst davor, ihr zerfurchtes, frühzeitig gealtertes Gesicht zu sehen, ihr graues Haar. Ich hatte Angst davor, sie so allein zu sehen. Ich zog mich zurück, feige, als würde ich von einem Schlachtfeld fliehen, aber sie hatte mich entdeckt. ’Chaikele, wohin gehst du?’ Ich blieb stehen, küsste ihre alten, trockenen Lippen und floh. Ich sah sie nie wieder.“ Nach der Zerstörung des Ghettos flüchtete Chaika Grossman mit ihren überlebenden GenossInnen in die Wälder, wo sie sich den Partisanengruppen anschlossen. Hunderte Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder fanden ebenfalls den Weg in die Partisanenlager. In den Wäldern wurden regelrechte Gemeinwesen eingerichtet, die nahezu vollständig autark die täglichen Bedürfnisse der Flüchtlinge bereitstellen konnten. Die jüdischen Partisanengruppen traten vor allem mit einer Serie von Anschlägen und Sabotageaktionen gegen Eisenbahntransporte der deutschen Wehrmacht an die Ostfront in Erscheinung und schlugen zeitweilig erhebliche Lücken in die Kriegsinfrastruktur der Deutschen. Erst als die sowjetische „Rote Armee“ die deutschen Besatzer im Sommer 1944 besiegte, konnten die Männer, Frauen und Kinder die Wälder wieder verlassen.Während viele männliche Widerstandskämpfer nach dem Krieg zu Ehren kamen, blieben die Frauen meist im Hintergrund. „Wir haben ja nur getan, was getan werden musste“. Aussagen wie diese von Chaika Grossman treffen wir häufig an, wenn wir Berichte von Widerstandskämpferinnen lesen.

Liquidierung des Ghettos


Bei der Ghetto-Liquidierung suchten die Deutschen am 16. August 43 Juden aus, unter ihnen Zalman Edelman und Shimon Amiel. Sie sollten dem Sonderkommando 1005 bei der Exhumierung und Verbrennung der bei den Ghetto-Liquidierungen vergrabenen Opfer helfen. Mit Ketten verbunden, wurden sie von Ort zu Ort im Distrikt Bialystok gebracht, um diese grauenvolle Arbeit zu verrichten. Drei Massengräber in Augustow enthielten 2.100 Leichen. Weitere Massengräber gab es in der Umgebung von Grodno, bei Staraya Krepost, in Novoshilovki, Kidl und Golnino bei Lomza. Am 15. Mai 1944 konnten die Gefangenen entkommen. Edelman und Amiel waren zwei von nur neun Überlebenden der Gruppe. Bei Kriegsende waren nur noch 300 – 400 Juden aus Bialystok am Leben, entweder bei den Partisanen, in deutschen Lagern oder versteckt im „arischen“ Teil der Stadt.

In der Nachkriegszeit lebten nur wenig mehr als 1.000 Juden in Bialystok, von denen aber nach und nach die meisten auswanderten.

Foto 1: Jüdisches Leben auf dem Markt v. Bialostok – Foto 2: Synagoge v. Bialystok – Foto 3: Ghetto von Bialystok – Foto 4: Ordnung der Ghettoverwaltung – Foto 5: Essensausgabe im Ghetto von Bialystok – Foto 6: Zusammengepferchte Mensch im Ghetto – Foto 7: Efraim Barasz Organisator des Judenrats – Foto 8: Jüdische Partisaninnen – Foto 9: Chaika Grossmann in der Mitte – Quelle: ushmn.org · Foto 10: Auf dem Weg zur Liquidierung · Alle Fotos (außer Foto 9) von holocaustresearchprojekt.org

Eine ganz eigene Tragödie, die in der deutschen Wahrnehmung (leider) nie richtig angekommen ist…

Hinterlasse einen Kommentar

Your email address will not be published.