Kassandra · Die Seherin · Roman von Christa Wolf

Kassandra · Die Seherin · Roman von Christa Wolf

Die trojanische Königstochter Kassandra ist eine Außenseiterin in einem Staat, der sich zu Beginn des Trojanischen Krieges in ein Patriarchat verwandelt, in dem die Frauen nichts mehr zu sagen haben, sondern von den Männern wie
Objekte behandelt werden. Unmittelbar vor ihrem Tod erinnert Kassandra sich an die Geschehnisse, schildert sie aus ihrer Perspektive und denkt über ihre Entscheidungen nach. Der Roman „Kassandra“ von Christa Wolf besteht aus nichts anderem als dem gewaltigen Inneren Monolog einer Intellektuellen, die in einer Männergesellschaft für ihre Eigenständigkeit kämpft und lieber stirbt, als sich fremden Regeln zu unterwerfen. Kassandra weiß aber auch – nicht zuletzt aufgrund des Scheiterns der Amazonenkönigin Penthesilea – dass es falsch wäre, ins andere Extrem zu verfallen und eine Gesellschaft ohne Männer anzustreben. Aus diesem Grund geht Kassandra nicht in der Solidargemeinschaft der Frauen auf, die sich in die Höhlen am Ufer des Skamandros in den Ida-Bergen zurückgezogen haben.

Auszüge aus dem Buch

Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt. Tiefer als von jeder andren Regung, tiefer selbst als von meiner Angst, bin ich durchtränkt, geätzt, vergiftet von der Gleichgültigkeit der Außerirdischen gegenüber uns Irdischen. Gescheitert das Wagnis, ihrer Eiseskälte unsre kleine Wärme entgegenzusetzen. Vergeblich versuchten wir, uns ihren Gewalttaten zu entziehen, ich weiß es seit langem. Seite 5 Dutzende von Männerbeinen in Sandalen, man sollte nicht glauben, wie verschieden, alle widerlich. An einem Tag kriegte ich fürs Leben genug von Männerbeinen, keiner ahnte es. Ich spürte ihre Blicke im Gesicht, auf der Brust. Nicht einmal sah ich mich nach den anderen Mädchen um, die nicht nach mir. Wir hatten nichts miteinander zu tun, die Männer hatten uns auszusuchen und zu entjungfern. Ich hörte lange, eh ich einschlief, das Fingerschnipsen und, in wieviel verschiedenen Betonungen, das eine Wort: Komm … Ich erfuhr zwei Arten von Scham: die, gewählt zu werden, und die, sitzenzubleiben. Seite 20 Ein Krieg, um ein Phantom geführt, kann nur verlorengehen. Seite 79 … es ging doch nicht an, so dachte ich, den ganzen Krieg und unser ganzes Leben – denn war der Krieg nicht unser Leben! – auf den Zufall einer Lüge aufzubaun … . In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Seite 96 Den Winter über wurde ich teilnahmslos und versank in Schweigen. Da ich das Wichtigste nicht sagen durfte, fiel mir nichts mehr ein. Seite 81 Dann kam Achill das Vieh. Des Mörders Eintritt in den Tempel, der, als er im Eingang stand, verdunkelt wurde. Was wollte dieser Mensch. Was suchte er bewaffnet hier im Tempel. Grässlichster Augenblick: Ich wusst es schon. Dann lachte er. Jedes Haar auf meinem Kopf stand mir zu Berge, und in die Augen meines Bruders trat der reine Schrecken. Ich warf mich über ihn und wurde weggeschoben wie ein Ding aus Nichts … Lachend, alles lachend. Ihm an den Hals griff. An die Kehle ging … Des Bruders Augen aus den Höhlen quellend. Und in Achills Gesicht die Lust. Die nackte grässliche männliche Lust … Nun hob der Feind, das Monstrum, im Anblick der Apollon-Statue sein Schwert und trennte meines Bruders Kopf vom Rumpf. Seite 84f Was jetzt, im Krieg, in unserm Rat zur Sprache kommen muss, ist keine Fraunsache mehr. Seite 104 Was geschehn soll, geschieht. Wir sind nicht dazu da, es zu verhindern. Also mach kein Wesens. Seite 121 Mein Hass kam mir abhanden, wann? Er fehlt mir doch, mein praller saftiger Hass. Ein Name, ich weiß es, könnte ihn wecken, aber ich lass den Namen lieber jetzt noch ungedacht. Wenn ich das könnte. Wenn ich den Namen tilgen könnte, nicht nur aus meinem, aus dem Gedächtnis aller Menschen, die am Leben bleiben. Wenn ich ihn ausbrennen könnte aus unsren Köpfen–ich hätte nicht umsonst gelebt. Achill. Seite 12 Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubt wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen – eine Frau! Dass sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nieder, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie ihn mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten … Was dann kam, seh ich vor mir, als wär ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebende zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle. Seite 135 Aineias lebt. Er wird von meinem Tod erfahren, wird, wenn er der ist, den ich liebe, sich weiter fragen, warum ich das wählte, Gefangenschaft und Tod, nicht ihn. Vielleicht wird er auch ohne mich begreifen, was ich, um den Preis des Todes, ablehnen musste: die Unterwerfung unter eine Rolle, die mir zuwiderlief. Seite 107 Als sie mich aus Angst vor Götterbildern später fragten: ob es denn wahr sei, dass Klein Aias mich an der Athene-Statue vergewaltigt hätte, habe ich geschwiegen. Es war nicht bei der Göttin. Es war im Heldengrab, in dem wir Polyxena zu verstecken suchten, die laut schrie und sang. Wir, ich und Hekabe, stopften ihr den Mund mit Werg. Die Griechen suchten sie, im Namen ihres größten Helden, des Viehs Achill. Und sie haben sie gefunden, weil ihr Freund, der schöne Andron, sie verriet. Gegen seinen Willen, brüllte er, aber was hätte er denn machen sollen, da sie ihn doch mit Tod bedrohten. Laut lachend hat Klein Aias ihn erstochen. Polyxena war auf einmal ganz bei Sinnen. Töte mich, Schwester, bat sie leise. Ach ich Unglückselige. Den Dolch, den Aineias mir am Ende aufgedrängt, hatte ich hochfahrend weggeworfen. Nicht für mich, für die Schwester hätt ich ihn gebraucht. Als sie sie wegschleiften, war Klein Aias über mir. Und Hekabe, die sie festhielten, stieß Flüche aus, die ich noch nie gehört hatte. Seite 154

Kassandra ist die Geschichte einer Außenseiterin, einer an die Oberschicht gefesselten Frau, in einem Staat, der sich zu einem ausgeprägten Patriarchat entwickelt, in einem kriegführenden Staat, in dem die Männer ihren Gegnern immer ähnlicher werden und die Frauen aus allen Entscheidungsprozessen, insbesondere den politisch relevanten, herausgedrängt werden. Kassandra erzählt die Geschichte einer Frau, die zum Objekt gemacht wird. Sozial gebunden an die herrschende Oberschicht, emotional gefesselt an ihren Vater, an die Geschichte und Gegenwart des Königshauses, erlebt Kassandra einen schwierigen, langwierigen Prozess der Loslösung. Sie entscheidet sich für ihre Autonomie und damit für den Tod, indem sie Aineias nicht folgt. Hierin zeigt die Erzählung deutlich feministische Tendenzen, die mich sehr beeindruckten.

Viele betrachten dies Werk von Christa Wolf als gesellschaftliche Kritik an der DDR, hier gibt es einige Interpretationen. Doch wie auch immer wir dies Buch, mit Spannung und Freude, lesen; wir ehren damit eine große Schriftstellerin. R.I.P. Christa Wolf.

Foto1: Christa Wolf – Quelle: gutefrage.net · Foto2: Buchtitel ‚Kassandra‘ – Quelle: classistatic.com

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