Die Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus

Die Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus

 

„Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe.“ Novalis

Bereits früh wurde die Kinder-Euthanasie von den Nationalsozialisten als Ziel verfolgt, früher als die Euthanasieprogramme an den erwachsenen Behinderten. Den Nationalsozialisten ging es hier in erster Linie auch nicht um die Kinder, die in Kinder- und Jugendpsychiatrischen  Einrichtungen verweilten, das kam erst viel später, nein, es ging ihnen um die behinderten Kinder, die in ihren Familien völlig integriert lebten.


 Diese Kinder ‚störten’ das nationalsozialistische Familienbild der ‚reinen Rasse’. So erklärte Adolf Hitler bereits 1929 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg: „… (dass die) Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung.“ Hitler und seine Paladine stützten sich dabei auf Alfred Ploetz, dem Begründer der deutschen Rassenhygiene, dieser forderte bereits 1895: „die menschliche Nachkommenschaft nicht irgendeinem Zufall einer angeheiterten Stunde [zu] überlassen. […] Stellt es sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches und missratenes Kind ist, so wird ihm vom Ärztekollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium […].“ Denn der Gedanke das Leben behinderter Kinder ‚zu verkürzen’ kam bereits nach dem Ersten Weltkrieg auf und wurde unter Juristen und Ärzten heftig diskutiert. So verschickte der Obermedizinalrat Ewald Meltzer 200 Fragebögen an Eltern pflegebefohlener ‚idiotischer’ Kinder, in denen er wissen wollte, ob diese einer ‚Lebensverkürzung’ zustimmen würden, denn er wollte damit die Befürworter der Euthanasie an Kindern widerlegen, doch wurde Dr. Meltzer tief enttäuscht, 162 Eltern beantworteten den Fragebogen, von denen sich nur 19 strikt gegen eine Maßnahme gegen ihr Kind wandten. Rechnet man diese ‚Umfrage’ hoch, so erkennt man im Ansatz die ‚Stimmung’ in der Bevölkerung zu diesem Thema; wobei darauf hinzuweisen ist, dass diese Befragung nicht repräsentativ ist.  Zu den von Hitler titulierten ‚Schwächsten’ zählten Kinder jeglicher Behinderung, bis hin zu allen chronisch erkrankten Kindern. 1935 kündigte Adolf Hitler ebenfalls auf dem Nürnberger Reichsparteitag gegenüber dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner an, dass er die ‚unheilbar Geisteskranken zu beseitigen’ suche und zwar spätestens im Falle eines künftigen Krieges.

Im Februar 1939 beraten Viktor Brack, Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des ‚Führers’; Hans Hefelmann, Leiter des Hauptamtes IIb der Kanzlei des ‚Führers’ und der Mediziner Herbert Linden, Ministerialdirigent im Reichsministerium des Innern, im engsten Kreis die Thematik der Euthanasie, besonders der Kinder-Euthanasie. Diese Dreiergruppe wurde dann noch um drei weiter ‚angesehene’ Ärzte erweitert und diese beschließen, unter strengster Geheimhaltung, die Massentötung von Kindern. Für das ‚Tötungsunternehmen’ darf natürlich nach außen hin nicht die Reichskanzlei des ‚Führers’ firmieren, so wird der ‚Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden’ ins Leben gerufen und mit Erlass vom 18. August 1939 unter dem Aktenzeichen IVb 3088/39 – 1079 Mi, soll mit der Erfassung der betroffenen Kinder begonnen werden. Danach wurden Ärzte und Hebammen sowie Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser verpflichtet, formblattmäßige Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu machen: „…falls das neugeborene Kind verdächtig ist mit schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein.“ Als Anlage wurde das Muster eines Meldebogens übersandt, das die Gesundheitsämter nach Bedarf bei der höheren Verwaltungsbehörde anzufordern hatten. Einzigartig war die Entschädigung von 2,– RM je Anzeige, die den meldepflichtigen Hebammen ‚für ihre Mühewaltung’ zustand. Meldepflichtig waren zunächst nur Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. Die vorgeschriebenen Meldebogen vermittelten den Eindruck, dass mit der Erfassung das Ziel einer fürsorgenden besonderen fachärztliche Betreuung verfolgt werden sollte. Die Amtsärzte leiteten die ausgefüllten Meldebogen an den bereits erwähnten ‚Reichsausschuss’ weiter. Das Urteil über Leben oder Tod der Kinder wurde lediglich anhand des Meldebogens getroffen, ohne dass die ärztlichen Gutachter Einsicht in die (nicht vorgelegten) Krankenakten nahmen, noch die Kinder gesehen hatten. Wurde ein Kind als ‚Euthanasie-Fall’ beurteilt, trugen die Gutachter ein + ein, umgekehrt ein -. War aus der Sicht der Gutachter keine eindeutige Entscheidung möglich, wurde ein ‚B’ für ‚Beobachtung’ vermerkt. Diese Kinder wurden zwar von der zu erwartenden Tötung vorläufig zurückgestellt, jedoch ebenfalls in eine ‚Kinderfachabteilung’ eingewiesen. Der dortige Arzt musste nach genauerer Untersuchung gegenüber dem ‚Reichsausschuss’ einen entsprechenden Beobachtungsbericht abgeben. Entscheidendes Kriterium zur ‚positiven’ Begutachtung waren prognostizierte Arbeits- und Bildungsunfähigkeit. Nach Aussage des Oberarztes Walter Schmidt, der die Kinderfachabeilung der Landesheilanstalt Eichberg leitete, kamen 95 % der zugewiesenen Kinder mit der Ermächtigung zur ‚Behandlung’, der Tarnbezeichnung für die Tötung.


Nur die restlichen 5 % wurden weiter beobachtet und untersucht.

Die Kinder-Euthanasie erfolgte anders als die später initiierte Erwachsenen-Euthanasie; denn die Kinder wurden durch Vernachlässigung, medizinische Versuche, Verhungern oder durch Medikamente ermordet. Vergasungen fanden zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht statt. Viele Schicksale von Kindern könnten erzählt werden, hier eins von Tausenden:

Marylene wurde am 9. Juni 1928 als zweites Kind von Peter und Anna E. geboren. Sie hatte fünf Geschwister. Marylene verbrachte ihre ersten Lebensjahre in einem kleinen Ort bei Husum und galt als durchaus fröhliches Kind, das oft und gerne im Garten spielte. Angesichts ihrer Behinderung wurde Marylene häufig von ihren Geschwistern und anderen Kindern des Ortes verspottet und litt darunter; in der Verwandtschaft kursierte die Ansicht, Marylene sei ‚im Suff gemacht’. Ihre Mutter habe sich jedoch der geistig behinderten Tochter nicht geschämt und hinsichtlich ihrer Zuneigung und der Versorgung und Erziehung der Kinder keine Unterschiede zwischen Marylene und ihren nicht behinderten Geschwistern gemacht. 1935 zog die Familie in den Kreis Plön, wo der Vater als Meierist ab dem 1. April eine Genossenschaftsmeierei gepachtet hatte. Die Auftragslage war sehr gut und so waren die Gewinne des Meiereibetriebes nach kurzer Zeit derart beträchtlich, dass die Familie E. rasch wohlhabend wurde und mehrere Hausangestellte beschäftigen konnte. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch machte Vater Peter E. Karriere. Er war bereits am 1. Juli 1929 ‚aus Interesse zur Partei’ in die NSDAP eingetreten, ebenfalls seit 1929 Mitglied der SA und hatte den Rang eines Obersturmführers. 1936 wurde er zum NSDAP-Ortsgruppenleiter an seinem neuen Wohnort ernannt, nachdem er die ‚Gauführerschule’ absolviert hatte. Doch für einen überzeugten Nationalsozialisten war ein behindertes Kind eine Last. Marylene wurde am 18. Oktober 1937 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Hesterberg aufgenommen; eingewiesen wurde sie von dem praktischen Arzt Dr. Stutte aus Lütjenburg.


Dr. Stutte erstellte zur Einweisung des Kindes ein umfangreiches, standardisiertes ärztliches Gutachten mit Datum vom 24. November 1936. In der Anamnese wird festgestellt, dass das Familienleben von ‚gutem Einvernehmen’ geprägt sei und in der Familie des Kindes keine Geistes- oder Nervenkrankheiten wie ‚schwere Psychopathien, Epilepsie, Trunksucht, Selbstmord, Straftaten oder auffallende Charaktere’ bekannt sind. „Erst 4 Wochen nach der Geburt merkten die Eltern, ‚dass mit dem Kinde etwas nicht in Ordnung ist‘. Es sei schlapp in den Gliedern gewesen“.  Marylene habe als Säugling ‚sehr wenig geschrieen’ und lernte erst mit zwei Jahren laufen. In seinem Gutachten beschreibt Dr. Stutte Marylene als ein lebhaftes, gutmütiges und geselliges Mädchen, das gerne mit Puppen spielt, ‚artikuliert spricht’ und sich ‚gut verständlich machen’ kann. Sie kann bis zehn zählen, ‚kennt alle Gegenstände, mit denen sie häufiger in Berührung kommt, genau’ und kennt die Texte und Melodien einiger Kinderlieder. Die von Dr. Stutte gestellte Einweisungsdiagnose ist eine ‚mongoloide Idiotie’. Demgegenüber fielen die Beurteilungen von der leitenden Ärztin der Hesterberger Anstalt, Dr. Erna Pauselius, hinsichtlich der Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale Marylenes sehr viel ungünstiger aus. In der Hesterberger Krankenakte wird Marylene 1938 als weitgehend ‚körperlich und geistig unterentwickelt’ beschrieben; sie könne lediglich bis vier zählen und sei ‚nicht schulfähig’. Dr. Stutte hatte hingegen dargestellt, dass Marylene ‚seit 2 Jahren die Unterstufe’ der Volksschule besucht hatte. Am 20. Januar 1940, fünf Monate vor ihrem Tod, ist in der Hesterberger Krankenakte dann vermerkt, dass Marylene sich, ganz im Gegensatz zu dem vorher beschriebenen ‚lebhaften und geselligen’ Mädchen, isoliert und zurückgezogen verhalte, nur noch in ‚kleinen Sätzen’ und überdies undeutlich spreche. Dr. Stutte konstatierte nur drei Jahre vorher eine hinreichend artikulierte und gut verständliche Sprache. Auch die von Erna Pauselius beschriebenen autoaggressiven Verhaltensweisen von Marylene wie sie ‚beiße sich in die Hände’, hatte Stutte noch eindeutig verneint. Marylene verstarb am 5. Mai 1940 um 13.10 Uhr. Als Todesursache wurde in der Krankenakte eine Bronchopneumonie angegeben.


Insgesamt starben in Schleswig-Hesterberg 87 Kinder und Jugendliche an einer Bronchopneumonie; dies sind 40 Prozent bei insgesamt 216 Todesfällen von 1939 bis zum Kriegsende im Mai 1945.

Offiziell spricht man von 5000 Opfern der Kinder-Euthanasie, doch sind hier die Kinder und Jugendlichen nicht mitgezählt, die, wenn sie das 12. Lebensjahr vollendet hatten, in den T4-Aktionen ermordet wurden. Auch sind die Zahlen, der ermordeten behinderten Kinder im eroberten Polen wenig genau. Neueste Forschungen gehen von 10 bis 15 000 Opfern aus. Doch letztendlich ist die Höhe der Zahlen weniger erheblich, wenn wir bedenken, dass jedes einzelne Kind ein Recht auf Leben hatte.

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