Marie-Luise Jahn

Marie-Luise Jahn

Marie-Luise Jahn • Leben für Gerechtigkeit und Wahrheit

Marie-Luise Jahn wurde am 28. Mai 1918 auf Gut Sandlack im Kreis Bartenstein geboren und verstarb am 22. Juni 2010 in Bad Tölz. Sie war eine Widerstands-kämpferin gegen den Nationalsozialismus und setzte die Arbeit der Weißen Rose fort. Marie-Luise Jahn wuchs als ältestes Kind mit zwei Brüdern auf dem elterlichen Landgut in Sandlack im heutigen Polen auf. Der Vater konnte ihnen als wohlhabender Grundbesitzer eine weitgehend unbeschwerte Kindheit ermöglichen, Unterricht erteilte eine Hauslehrerin.

Zwischen 1934 und 1937 absolvierte sie das Internat Königin-Luise-Stiftung in Berlin, das sie erfolgreich mit dem Abitur abschloss. Am 9. November 1938 erlebte sie in der Reichshauptstadt die Ausschreitungen der Pogromnacht mit, die ihr eine bleibende Erinnerung blieben. Sie sah, wie auf offener Straße Menschen, zumeist jüdischer Abstammung, aus ihren Häusern gezerrt und misshandelt wurden. Danach begann sie, sich Gedanken über die Politik zu machen und verstand nun auch die Aussage ihres Vaters nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, dass sich nunmehr alles ändern werde.

„Erst wird man stutzig, dann kritisch, dann hört man besser hin und schließlich tut man etwas.“

So erklärte sie im Laufe ihres Lebens Tausenden von Zuhörern, wie sie als eine der wenigen Deutschen in den Widerstand gegen die Nazis gegangen war. Die Pogromnacht am 9. November 1938 war für sie der Auslöser, genauer hinzuschauen. Um ein Studium antreten zu können, leistete Marie-Luise Jahn von April bis Oktober 1939 in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze ihren Arbeitsdienst auf einem Bauernhof ab. Im Februar 1940 begann sie in München ein Chemiestudium am Staatslabor der Universität München, das seit 1927 unter der Leitung des Nobelpreisträgers Heinrich Wieland stand. Auf Grund der NS-Vorgaben durften Juden nicht mehr studieren. Wieland setzte sich über das Verbot hinweg und ermöglichte jüdischen und sogenannten halbjüdischen Kommilitonen dennoch den Universitätsbesuch. In diesem Umfeld, das aber auch Studenten kannte, die in NS-Uniformen zum Studium erschienen, lernte Jahn um die Jahreswende 1941/1942 Hans Leipelt kennen.


Das gemeinsame Interesse an Fragen der Literatur machte sie zunächst zu Freunden, dann zu einem Liebespaar. Hans Leipelt, der in Hamburg wohnte, dort jedoch nicht mehr studieren konnte, besaß viele zu seiner Zeit verbotene Bücher. Da seine Mutter Jüdin war, galt er als so genannter Halbjude.

„Hans wollte ein guter Deutscher sein. Ungeist, Unfreiheit und Willkür der nationalsozialistischen Diktatur, Rechtlosigkeit und Verfolgung seiner Familie trieben ihn in den Widerstand.”

Sagte Marie-Luise Schultze-Jahn in Erinnerung an ihren Weggefährten und ihre große Liebe 1994. Hans Leipelt wurde am 18. Juli 1921 in Wien geboren. Die Mutter Katharina, geb. Baron, war promovierte Chemikerin, ein für Frauen damals ungewöhnlicher Studienabschluss. Katharina Leipelt stammte aus einer christlichen Familie jüdischer Herkunft. Hans und seine nach der Übersiedelung der Familie 1925 in Hamburg geborene Schwester Maria wurden protestantisch erzogen, konfirmiert und lebten relativ unbeschwert, bis 1935 die Nürnberger Rassegesetze der Nationalsozialisten die Geschwister zu „jüdischen Mischlingen 1. Grades“, die Mutter zur „privilegierten Volljüdin“ stempelten. Hans machte schon 1938 in Hamburg Abitur. Er meldete sich freiwillig zur Wehrmacht und nahm am Krieg gegen Polen und Frankreich teil. Im August 1940 wurde er aus „rassischen“ Gründen aus der Wehrmacht entlassen. Im September 1940 begann er in Hamburg das Studium der Chemie und lernte unter anderen politisch Gleichgesinnten Heinz Kucharski und Margarete Rothe kennen. Ab Sommer 1941 studierte er am Chemischen Institut der Universität München. Dort ignorierte der Nobelpreisträger Professor Heinrich Wieland die rassistischen Studienbedingungen. Hier lernte Hans Leipelt seine spätere Vertraute Marie-Luise Jahn kennen.

Anfang Februar 1943 erhielt Hans Leipelt das sechste Flugblatt* der studentischen Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ mit der Post, in dem das genaue Kriegsgeschehen geschildert wurde. Hier wurde auf die Leiden der Soldaten in Stalingrad hingewiesen, dass sich bis dahin durch den Propagandaapparat der Nationalsozialisten weniger dramatisch darstellte. Unter anderem stand darin: „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad.


Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!“ Den Inhalt machte er auch Marie-Luise bekannt. Beide trafen sich jeden Abend im Englischen Garten in München, um ohne Ohrenzeugen offen reden zu können oder von Regimetreuen an die Gestapo verraten zu werden. Sie entschlossen sich, auf der Basis des Flugblattes, zum gemeinsamen Handeln, obschon sie zuvor nichts über die „Weiße Rose“ wussten oder auch nur Wissen um das Werk der Geschwister Scholl besaßen. Einzig, dass beide hingerichtet wurden, war ihnen bekannt. Sie tippten das sechste Flugblatt mit der ergänzten Überschrift „…Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ ab und wollten es verteilen, um die Bevölkerung über den wirklichen Verlauf des Krieges aufzuklären. Im April 1943 gaben sie den Text an ihre Freunde Karl Ludwig Schneider, Heinz Kucharski und Margaretha Rothe weiter. Zudem beschlossen beide, für die Witwe und die Kinder des hingerichteten Kurt Huber Geld zu sammeln. Diese Sammelaktion wurde später der Gestapo bekannt. Am 8. Oktober 1943 wurde Hans Leipelt verhaftet, zehn Tage später auch Marie-Luise Jahn. Warnungen, sie solle nach der Verhaftung ins Ausland fliehen, hatte sie nicht befolgt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie sie dort hätte leben sollen. Beim Verhör wurden ihr die eigenen Briefe, die sie an Hans geschrieben hatte, vorgelegt, so dass ein Abstreiten ihrer Regimekritik unmöglich wurde. Am 13. Oktober 1944 fand in Donauwörth der Prozess gegen Leipelt und Schultze-Jahn statt. Die Anklage lautete:

„Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen.“

Nur Jahn hatte einen Anwalt, der ihr von einem Bekannten vermittelt worden war. Leipelt bat den Juristen, die gesamte Verantwortung für die Widerstandshandlungen auf ihn zu schieben, um Marie-Luise Jahns Leben zu retten. Den Ausführungen des Anwalts, die von Hans Leipelt als Entlastung für Marie-Luise erdacht wurde, dass der Jude Leipelt das Mädchen verführt und in die Irre geleitet, widersprach sie nicht, denn sie sah an den Blicken ihres Geliebten, dass sie schweigen sollte. Dass es für ihn selbst auf Grund seiner jüdischen Abstammung keine Chance mehr gab, wusste er. Er wurde am 29. Januar 1945 hingerichtet. Nachdem auch Professor Wieland als Entlastungszeuge für sie aufgetreten war, wurde Marie-Luise Jahn zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Gefängnis von Aichach, in dem sie von Oktober 1943 bis Mai 1945 einsaß, war sie mit anderen politischen Gefangenen in Kontakt. Am 29. April 1945 befreiten US-Soldaten das Zuchthaus. Nach ihrer Entlassung war ihr der Weg in die alte Heimat, die von russischen Truppen besetzt war, versperrt. Mit Mühe erlangte sie eine Arbeitsstelle, denn sie galt noch immer als Hochverräterin, bei einer amerikanischen Behörde in Bayreuth. Sobald ihre Haftstrafe als politische eingestuft wurde, studierte sie Medizin an der Universität Tübingen und promovierte 1953. Seit ihrer Eheschließung mit dem Chemiker Hans Schultze heißt sie Marie-Luise Schultze-Jahn, doch bereits 1954 trennte sich das Ehepaar.

Sie war 1987 bis 2002 Vorstandsmitglied der Weißen Rose Stiftung. 1988 gab sie ihre internistische Praxis in Bad Tölz auf und widmete sich ganz dem Erinnern und Mahnen durch Zeitzeugeninterviews vor allem in Schulen, Universitäten und auch in Kirchen.


Sie setzte sich für ein Todesmarsch-Denkmal an der Mühlfeldkirche in Bad Tölz ein und regte an, mit „Ge(h)denksteinen“ im Stadtbild an ehemalige jüdische Mitbürger zu erinnern.

„Wie sollen denn die jungen Leute heute sonst wissen, was früher war?“,

sagte sie immer wieder. Und sie nannte diesen Einsatz ihren „Beitrag wider das Vergessen“. Die Gräuel, die sie selbst ein Leben lang nicht vergessen kann, hält sie in einem Buch fest. Es trägt den Titel „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“. Dieser Satz gilt auch für Marie-Luise Schultze-Jahn selbst.

In Bad Tölz, wo sie seit 1969 zuhause war, war die kleine, zierliche, aufrechte Dame zuletzt als moralische Autorität anerkannt. Das äußerte sich 2003 in der Aufstellung einer Ehrentafel auf der Flinthöhe, 2008 in der Verleihung der Isar-Loisach-Medaille des Landkreises. Am 24. Juni 2010 verstarb sie mit 92 Jahren.

*Sechstes Flugblatt der Weißen Rose. Nach einem Entwurf von Kurt Huber mit Korrekturen von Hans Scholl und Alexander Schmorell, Februar 1943.

Kommilitoninnen! Kommilitonen!

Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!

Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest unserer deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volke erduldet hat. Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen.

In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA und SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. „Weltanschauliche Schulung“ hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Eine Führerauslese, wie sie teuflischer und zugleich bornierter nicht gedacht werden kann, zieht ihre künftigen Parteibonzen auf Ordensburgen zu gottlosen, schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben heran, zur blinden, stupiden Führergefolgschaft. Wir Arbeiter des Geistes, wären gerade recht, dieser neuen Herrenschicht den Knüppel zu machen. Frontkämpfer werden von Studentenführern und Gauleiteraspiranten wie Schulbuben gemaßregelt, Gauleiter greifen mit geilen Späßen den Studentinnen an die Ehre. (…)

Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns politisch weiter mundtot halten will! Heraus aus den Hörsälen der SS-Unter- und -Oberführer und Parteikriecher! Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! Kein Drehmittel kann uns schrecken, auch nicht die Schließung unserer Hochschulen. Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere.Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewußten Staatswesen.

Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, das haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genugsam gezeigt. Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet. Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!

„Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!“

Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.

Inge Scholl: Die Weiße Rose. Erw. Neuausg. Frankfurt a. M. 1982, S. 96-121. 

Bild 1: Dr. Marie-Luise Jahn – Quelle: sonntagsblatt-bayern.de · Bild 2: Hans Leipelt – Quelle: weisse-rose-stiftung.de · Bild 3: Zeitungsausschnitt ‚die Weisse Rose‘ – Quelle: dhm.de · Bild 4: Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn – Quelle: mittelschule-aichach.de

Hinterlasse einen Kommentar

Your email address will not be published.