Mascha Kaléko • Ich habe Heimweh, nur wonach?
Mascha Kaléko wurde am 7. Juni 1907 im galizischen Chrzanów, damals Österreich-Ungarn, im heutigen Polen geboren und verstarb am 21. Januar 1975 in Zürich. Sie war eine deutschsprachige Dichterin, eine bedeutende Lyrikerin die der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wurde. Neue Sachlichkeit bezeichnet eine Richtung der Literatur in der Zeit Weimarer Republik, die sich nüchtern und realistisch vom Pathos abgrenzt. An die Stelle emphatischer Wendungen und radikal-romantischer Bilder trat eine ernüchterte, beobachtende Haltung, die dokumentarisch-exakt und scheinbar gefühllos die moderne Gesellschaft darstellte, wobei häufig Alltagsdokumente in die Werke einmontiert wurden. So zeichnet sich die ‚Neue Sachlichkeit‘ durch schlichte Klarheit, sachliche Ausdrucksweise sowie teils hoch politische Inhalte aus. Ein Ziel der damaligen Schriftsteller war die objektive und genaue Wiedergabe der Realität. Man wollte den Menschen Leitbilder geben, um in der neuen Massen- und Mediengesellschaft bestehen zu können. Bertold Brecht, Lion Feuchtwanger oder Carl Zuckmayer waren Vertreter dieser Richtung, um nur einige zu nennen.
Mascha Kaléko, geboren als Golda Malka Aufen, war das nichtehelich geborene Kind des jüdisch-russischen Fischel Engel und seiner späteren Ehefrau, der österreichisch-jüdischen Rozalia Chaja Reisel Aufen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, übersiedelte zunächst die Mutter mit den Töchtern Mascha und Lea nach Deutschland, um Pogromen zu entgehen. In Frankfurt am Main besuchte Kaléko die Volksschule. Ihr Vater wurde dort aufgrund seiner russischen Staatsbürgerschaft als feindlicher Ausländer interniert. 1916 zog die Familie nach Marburg, schließlich 1918 nach Berlin, ins Scheunenviertel der Spandauer Vorstadt, in die Grenadierstraße 17. Hier verbrachte sie ihre Schul- und Studienzeit. Während Mascha Kaléko eine gute Schülerin war und auch sehr daran interessiert, später zu studieren, war ihr Vater der Meinung, dass ein Studium für ein Mädchen nicht notwendig sei, wobei auch das Schulgeld bei diesen Überlegungen eine Rolle spielte. Sie begann 1925 im Büro des Arbeiterfürsorgeamts der jüdischen Organisationen Deutschlands in der Auguststraße 17 eine Bürolehre. Nebenher besuchte sie Abendkurse in Philosophie und Psychologie, unter anderem an der Lessing-Hochschule und an der heutigen Humboldt-Universität. 1922 heirateten ihre Eltern standesamtlich, sie wurde von ihrem Vater anerkannt und erhielt den Namen Mascha Engel. Emigrantin von Kind auf, fand sie in Berlin, der Stadt, die sie geprägt hat, scheinbare Heimat und ahnte nicht, dass „die paar leuchtenden Jahre vor der großen Verdunkelung“ schon nach knapp einer Generation zu einer Art ‚goldenem Zeitalter’ avancieren würden. Berlin gewährte Zugehörigkeit. In Berlin gehörte Mascha Kaléko zum Kreis der schöpferischen Bohème, die sich Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger Jahre das ‚Romanische Café’ zum Treffpunkt erkoren hatte. Maler, Schauspieler und Literaten wie Tucholsky, Ringelnatz, Klabund, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Walter Mehring saßen hier, dichteten und diskutierten; träumten von einer besseren Welt, bis die meisten von ihnen in die Emigration gingen, in die äußere oder innere.
Am 31. Juli 1928 heiratete sie den knapp um zehn Jahre älteren Hebräisch-Lehrer Saul Aaron Kaléko, den sie seit 1926 kannte.
Ihre frühesten Gedichte erschienen in den Berliner Zeitungen, gleich in den führenden, zumal im liberalen „Berliner Tageblatt“. Bald wurde sie dort regelmäßig gedruckt. Sie hatte sofort viele Leser und einige etwas ratlose Kritiker. Diese wussten nicht recht, wie man die Anfängerin einordnen soll. Verschiedene Namen werden vorgeschlagen: Sie käme aus der Welt von Eugen Roth, sie sei eine Tochter Christian Morgensterns, eine Schwester von Joachim Ringelnatz. Vor allem aber: Sie habe viel von Kurt Tucholsky und Erich Kästner gelernt, was vielleicht am ehesten zutrifft. Die Ursache dieses geradezu verblüffenden Erfolgs lag auf der Hand und in der Zeit begründet. Es war und ist die Authentizität ihrer Lyrik, genauer gesagt, deren authentische Naivität. Sie schrieb, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Vermutlich hat die Kaléko nie anders dichten wollen, sie hätte es wohl auch gar nicht gekonnt. Aufs natürlichste verbindet sie trockene, ironische, gewissermaßen augenzwinkernde Sentimentalität mit pfiffiger, etwas zynischer Ernüchterung. Das ergibt sehr rasch und ganz ohne Umstände eine neuartige Großstadtlyrik. Sie fixierte in ihren Versen Berliner Lebensgefühl, gewürzt, begründet und vor allem veranschaulicht mit Beobachtungen des Alltags. Mehr noch: Diese Gedichte sind Identifikationsangebote aus weiblicher Sicht, die gleichwohl von männlichen Lesern dankbar angenommen wurden. Von Mascha Kaléko konnten sie erfahren, wie es auf der anderen Seite aussieht. Doch trotz dieser ersten großen Erfolge arbeitete sie weiter an sich. 1933/1934 studierte sie an der Reimann-Schule in Berlin, unter anderem in der Klasse für Werbungs- und Publicity-Schreiben. 1933 publizierte sie das Lyrische Stenogrammheft, über das der Philosoph Martin Heidegger später an sie schrieb:
„Ihr Stenogrammheft zeigt, dass Sie alles wissen, was Sterblichen zu wissen gegeben ist.“
Obwohl das erfolgreich verkaufte Werk, im Januar erschienen, bereits im Mai den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen zum Opfer fiel, gab Rowohlt 1935 eine zweite Auflage heraus. Außerdem erschien in dieser Zeit
„Das kleine Lesebuch für Große“.
Im Dezember 1936 wurde Kalékos Sohn Evjatar Alexander Michael in Berlin geboren, sein Name wurde im Exil in Steven geändert. Kindsvater war der Dirigent und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver. Am 22. Januar 1938 wurde die Ehe von Saul und Mascha Kaléko geschieden, sechs Tage später heiratete sie Chemjo Vinaver. Mascha behielt den Namen Kaléko als Künstlernamen bei. Die neue Familie emigrierte im September 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika. Das Ringen um die bloße Existenz in Amerika war hart. Chemjo Vinaver, der sich sein ganzes Leben mit chassidischer Synagogal-Musik beschäftigte, gründete einen Chor und gab Konzerte. Da er kaum ein Wort Englisch lernte, war seine Frau ihm als ‚Karrierehelferin’, wie sie es zu nennen pflegte, unentbehrlich. Das bedeutete: Sie musste ihn zu Besprechungen, zu Proben und zu jedem Konzert begleiten und dolmetschen. Für den Chor übernahm sie die PR-Arbeit. Geringe Einkünfte erzielte sie durch Werbetexte für Büstenhalter, Seifen und Kosmetikartikel. Zum Dichten blieb wenig Zeit, und oft wurde das Glück schöpferischer Äußerung gestört:
„Mich ruft mein Gemahl. Er wünscht mit mir sein nächstes Konzert zu besprechen.“
Mit diesem Stoß- Seufzer schließt ihr Gedicht: „Die Frau in der Kultur“. Und wer die vorhergehende Zeile liest: „Doch muss ich wie stets unterbrechen“, der könnte meinen, Chemjo Vinaver habe die Entfaltung seiner Frau verhindert. Auch. Aber nicht eigentlich und nicht willentlich. 1939 veröffentlichte Kaléko Texte in der deutschsprachigen jüdischen Exilzeitung Aufbau. 1944 erhielt die Familie Vinaver/Kaléko die amerikanische Staatsbürgerschaft. Am 6. Dezember 1945 war Kaléko aktiv dabei, als der New Yorker Progressive Literary Club, eine von Heinrich Eduard Jacob gegründete Initiative zur Pflege der deutschen Literatur im Exil, verstorbener Dichter gedachte. Das große Pech war für Mascha Kaléko, dass es keinen amerikanischen Verleger für sie gab in den 20 Jahren, die sie mit ihrer Familie in den USA lebte. Was sie in den ersten Jahren dichtet, ist vor allem Heimweh nach der verlorenen Heimat. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach Deutschland ein. Die Sprache ist härter geworden. Die Bitterkeit des aufgezwungenen Schicksals hat den „Versen für Zeitgenossen“, die 1945 in Cambridge/USA erschienen, mehr Gewicht und Tiefe verliehen. Nach dem Krieg fand Kaléko in Deutschland wieder ein Lesepublikum, das Lyrische Stenogrammheft wurde erneut von Rowohlt 1956 erfolgreich verlegt. „Als ich Europa wieder sah – nach jahrelangem Sehnen – als ich Europa wieder sah – da kamen mir die Tränen.“ 1938 war Hamburg die letzte deutsche Stadt gewesen auf dem Weg in die Emigration.
Jetzt ist Hamburg die erste deutsche Stadt, die sie wieder sieht nach 18 Jahren. Sie kommt zurück, wenn auch nur vorübergehend. Schon nach zwei Wochen ist ihr „Lyrisches Stenogrammheft“ unter den Bestsellern. Mascha gibt Interviews. Sie wird auf Empfängen herumgereicht und gefeiert. Sie hält Vorträge und liest ihre Gedichte. Die vollen Säle sind ein Beweis, dass sie in Deutschland nicht vergessen ist. Und dann ihr Wiedersehen mit Berlin: „Auf meinem Herzen geh ich durch die Straßen – wo oft nichts steht als nur ein Straßenschild. In mir, dem Fremdling, lebt das alte Bild – der Stadt, die so viel Tausende vergaßen. Ich wandle wie durch einen Traum – durch dieser Landschaft Zeit und Raum. Und mir wird so ich-weiß-nicht-wie – vor Heimweh nach den temps perdus…“ Ihr Comeback soll auch öffentlich dokumentiert werden: Die Akademie der Künste in Berlin beabsichtigt, ihr den Fontane-Preis zu verleihen. Mascha zieht aber ihre Kandidatur zurück mit der Begründung, das Jurymitglied Hans Egon Holthusen sei in der SS gewesen und es sei ihr nicht möglich, den Preis aus seiner Hand anzunehmen. Unverständlich ist, dass auch später sie nie einen deutschen Literaturpreis verliehen bekam.
Ihrem Mann zuliebe verlässt sie mit ihm Amerika und übersiedelt nach Israel. Für Chemjo Vinaver bietet Jerusalem mit seiner Vielfalt an Synagogen auf musikalischem Gebiet ein wahres Babylon aller chassidischen Richtungen, die er wissenschaftlich auswertet. Für Mascha Kaléko war die ‚Heimkehr ins Land der Väter‘ noch härter als die Emigration in die USA. Sie setzte die Dichterin erst der vollkommenen Isolierung aus, auch hier empfand sie sich als heimatlos.
Sie verstand wenig Iwrit, sprach noch weniger und schrieb deutsche Gedichte. Sie war Jerusalems unbekannteste Dichterin; ein Rang, den vor ihr Else Lasker-Schüler innehatte. Die Isolierung nahm sie hin als etwas schicksalhaft Gegebenes. 1968 starb überraschend ihr Sohn in Amerika. Als angehender Star am Broadwayhimmel hatte er Musicals geschrieben, komponiert und inszeniert. Das künstlerische Erbe beider Eltern hatte er in erfolgreiche, dramatische Werke umgesetzt.
„Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang – Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“
Die Anfangszeilen des schon in den Vierzigerjahren entstandenen „Memento“ machen deutlich, dass die Angst immer unterschwellig an ihr nagte und fast an Gewissheit grenzte: Sie würde die Ihren überleben. Im Dezember 1973 erlag ihr Mann einem langjährigen Leiden, und aus fast allen im Jahre 1974, ihrem letzten Lebensjahr, geschriebenen Gedichten spricht der Schmerz über diesen Verlust. Er war ihr, sie war ihm alles gewesen. Was das Schicksal ihnen auch angetan hatte, im privaten Bereich waren sie unverletzbar geblieben, hatten Frieden, den die Umwelt verweigerte, in sich selber gefunden. Als menschlich und literarische Heimatlose, die sie seit ihrer Kindheit war, starb Mascha Kaléko in Zürich, der Emigrantenstadt, am 21. Januar 1975. Die Beisetzung fand auf dem jüdischen Friedhof Friesenberg in Zürich statt.
Bild 1: Mascha Kaleko – Quelle: berlin.de · Bild 2: Romanisches Cafe i. Berlin Breitscheidplatz – Quelle: jmberlin.de · Bild 3+4: Buchtitel von Mascha Keleko – DTV Verlag · Bild 5: Gedenktafel in Berlin – Wikipedia.org
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