Der Novemberpogrom 1938 · Der Tag danach

Der Novemberpogrom 1938 · Der Tag danach

Erlebnisbericht von Josepha von Koskull 1898-1996 aus Berlin

Am 10. November 1938 war jener furchtbare Tag, als auf Goebbels Gebot die jüdischen Geschäfte zerstört und geplündert und jüdische Mitbürger auf der Straße geschlagen, ja getötet und die jüdischen Gotteshäuser in Brand gesteckt wurden. Nahe von der Bank, in der ich arbeitete, war das Konfektionsviertel, der Sitz der »Haute Couture« von Berlin, die vor dem Kriege sehr bedeutend war und viel für den Export nach den nordischen Ländern arbeitete.

Die Inhaber dieser Modehäuser waren meist Juden. Als ich um sechzehn Uhr aus dem Bankgebäude herauskam, hörte ich wüstes Schreien und Brüllen, man plünderte die Stofflager der Konfektionshäuser. Mir wurde ganz übel dabei, aber ich hatte immer noch die Instinkte einer Journalistin, ich musste dabei sein, wenn etwas so Aufregendes, so Einmaliges in Berlin geschah.

Wenn ich heute daran zurückdenke, nachdem ich die entsetzlichen Kriegsjahre in Berlin überlebt habe, kommt mir die Plünderung nicht mehr so grausig vor, aber damals war es ein Eindruck, der höllisch war. Aus den obersten Stockwerken warfen SA-Männer ganze Stoffballen herunter, die schönsten bunten Seiden wehten wie lange Fahnen an den Häuserfronten herab, unten stand die johlende Menge und riß sie an sich. Man sah Leute, die die Ballen in Autotaxen packten und mit ihrer Beute wegfuhren. Manchmal wurde ein Eimer Wasser herunter gegossen, um die Menge auseinander zu jagen, dann warfen die SA-Männer die Schreibmaschinen herunter, die in Stücke zersplitterten. Die Polizei stand untätig dabei.


Ein Auto mit hohen SA-Führern fuhr ganz langsam durch das Menschengedränge, die Herren sahen sich um und lachten laut und herzlich. Ich war zutiefst angewidert. Ich dachte: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«. Eine auf der Straße liegende Scherbe Fensterglas hob ich auf, zum Gedenken an diesen Tag, da Berlins Straßen voller Glas lagen.

Ich stieg in die U-Bahn, nach Hause zu fahren. Aber wieder zwang es mich, am Wittenbergplatz auszusteigen. In der Tauentzienstraße ging es noch toller her. Die herrlichen Auslagen der Luxusgeschäfte waren schon leer geraubt, nun warfen die Zerstörer die Waren aus den Lagern dem Publikum zu. Mir flogen mehrere Dutzend Seidenstrümpfe vor die Brust. Ich warf sie zu Boden. Als ich mich dann bückte, auch hier ein Stück Spiegelscherbe aufzuheben, war es mir peinlich. Man hätte den Eindruck haben können, ich habe da einen Brillantring aufgehoben.

Wie viele Glasscherben sind seit jenem »Tag des deutschen Kristalls« in Berlin auf die Straße herabgeregnet. Und doch habe ich noch die beiden Scherben, von denen ich jetzt schreibe.

Als ich verwirrt und entrüstet nach Hause kam in die stille Vorstadt, die von diesem Lärm und Geschrei, von diesen Untaten noch nichts wusste, erwartete mich mein Freund Ri. Ich kannte ihn schon seit 1924, wir hatten zusammen bei der Zeitung gearbeitet. Er war jetzt Direktor bei einer großen Bank. Ri war einer von jenen Deutschen, die sehr viele Kenntnisse hatten, ohne doch ein kluger Mensch zu sein. Als Süddeutscher hatte er zudem einen gefährlichen Hang zur Sentimentalität, die von echtem Gefühl so verschieden ist.

Er war überzeugter Nationalsozialist, wie er früher einmal überzeugter Demokrat gewesen war. Es hatte ihm einige Mühe und auch Geld gekostet, Aufnahme in die Partei zu finden, denn er hatte sich nicht etwa in den »Kampfjahren«, sondern erst nach der »Machtübernahme« an sie herangemacht. Seit kurzem trug er mit großem Stolz das »Bonbon«, soll heißen: das Parteiabzeichen am Rockaufschlag. Er war SA-Mann und trat bei jeder Gelegenheit an, das heißt marschierte zu irgendwelchen Aufmärschen mit. Wir stritten uns erbittert, sobald wir auf das Gebiet der Politik kamen. Er verübelte mir meine Freundschaft mit den jüdischen Beermanns, er brachte mir nationalsozialistische Bücher zum Lesen, wollte mich durchaus bekehren und zum Eintritt in die Partei überreden. Er sagte mir stets, ich hätte so »große Chancen« als Parteimitglied. Zum wenigsten sollte ich in die »Frauenschaft« eintreten. „Josi, du darfst nicht außen stehen. Du musst dich anschließen. Siehst du denn gar nicht, was unser Führer will?“ „O doch!“ sagte ich.

Unser Verhältnis beruhte auf einer Hass-Liebe, die oft dauerhafter bindet als Liebe. Wir trennten uns unter Verwünschungen, mieden uns wochenlang, trafen uns wieder, begruben den Streit und umgingen jenes Thema, das unsere Gegnerschaft erweisen musste. Gemeinsame Interessen banden uns, doch es war eine Kluft zwischen uns aufgetan seit jenem unglückseligen Januar 1933. Ich nannte ihn einen Opportunisten, er mich eine Judenfreundin und Kommunistin. Wir hatten aber beide nicht die Kraft, uns ganz voneinander los zu machen.

An diesem Abend traf ich nun zum ersten Mal auf Verständnis für meine Ansichten. Auch Ri fand das, was da in der City geschah, abscheulich und unerhört. Der gute Bürger in ihm empörte sich gegen diese Vernichtung von Werten. Er rechnete aus, welch ein Schaden den Versicherungsgesellschaften durch die Glasschäden und andere Verluste entstehen würde. Aber dann meinte er doch abschließend: „Davon weiß der Führer nichts, das ist Goebbels Werk!“

Beermanns telefonierten, ich sollte rasch kommen. Sie waren sehr in Unruhe. In einem lange nicht mehr geöffneten Wandschrank hatten sie die Jagdflinten des längst verstorbenen Kommerzienrats gefunden. Waffen in einem jüdischen Hause! Das konnte schreckliche Folgen haben. Wir berieten, was zu tun sei. Dann wurde Verpackungsmaterial gekauft und es wurden große Pakete verschnürt. Am nächsten Abend fuhr ich mit einer Taxe vor und holte sie ab. Dem Chauffeur sagte ich, es seinen schmiedeeiserne Lampenfüße. Ich fuhr mit den Paketen zur Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Zoo, nach einer halben Stunde holte ich sie von dort wieder ab und brachte die Waffen in meinen Keller. Damals erschien mir dieser Waffentransport wie ein aufregender Schmuggel.

Dann wurde befohlen, dass die Juden alle ihre Gold- und Silbersachen abliefern mussten. Meine Freunde kauften altes Tischsilber, zwei Zentner, die lieferten sie gegen Quittung ab; das sehr schöne Silber für achtundvierzig Personen nahm ich in Verwahrung, ebenso die sehr wertvollen Juwelen der alten Kommerzienrätin. Sie hatte den Schmuck zum Glück nicht in einer Versicherung gegen Diebstahl, so gab es keine Listen, auf Grund deren die Nazis ihn hätten anfordern können.

Von diesen Dingen durfte Ri nichts wissen. Es war ein Glück für mich, dass Frau Schramm, meine Mitbewohnerin, judenfreundlich war. Sie hatte als Köchin in einem reichen jüdischen Haus gedient und ließ nichts auf jüdische Herrschaften kommen. Sonst aber war sie ziemlich überzeugt von der Richtigkeit alles dessen, was Hitler tat. Sie hielt den »Völkischen Beobachter«, und ich war recht zufrieden, dass das Abonnement auf ihren Namen lief. Lange Jahre hatten wir ein demokratisches Blatt gehalten. Der in unserem Haus wohnende »Zellenwart« hatte sie jedoch überredet, das Blatt des Führers, den »Völkischen Beobachter« zu bestellen. Ich lehnte es ab, überhaupt eine Zeitung zu halten, sagte stets, ich bekäme ja alle Zeitungen in der Bank zu lesen. Dort las ich täglich den »Temps«, die »Times« und »Svenska Dagbladet«.

Bild 1: Judenprogrom i. Mittelalter – Quelle Wikipedia · Bild 2: Judenhetze 1614 i. Frankfurt – Quelle: jüdische-Geschichte-Hamel.de · Bild 3: Russischer Progrom – Quelle: flickr.com · Bild 4: Plaktklebende SA – Quelle: planet-wissen.de ·  Foto 1: Kaufhaus Wertheim – Quelle: Bundesarchiv · Foto 2: Deutsche Bank – Quelle: preussen-chronik.de · Foto 3: Berliner Synagoge – Quelle: stefanjacob.de · Foto 4: Schreiben v. Heydrich – Quelle: NS-Archiv.de · Foto 5: Herschel Gryspan Quelle: fireballs-land.de · Foto 6: Reichspogromnacht – Quelle: letmathe.de · Foto 7: Reichspogromnacht m. Zuschauern – Quelle: einestages Spiegel. de · Foto 8: Josepha v. Koskull – Quelle: chm.de · Foto 9: Plünderungen in Berlin – Quelle: welt.de · Foto 10: Berliner Gedenktafel – Quelle: oorlogmusea.nl· 

 

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