Im Wald von Rumbula

Im Wald von Rumbula

 


Der Wald von Rumbula ist ein Kiefernwäldchen im Gebiet der Stadt Rīga, Lettland. In nur zwei Tagen, dem 30. November und dem 8. Dezember 1941 wurden cirka 27.000 Juden im Wald von Rumbula und auf dem Weg dorthin ermordet. Von diesen 27.000 waren 24.000 lettische Juden aus dem Rigaer Ghetto, andere kamen aus jüdischen Krankenhäusern und aufgespürten Verstecken; ungefähr 1.000 waren deutsche Juden, die mit Güterzügen in den Wald gefahren wurden.
 

Der systematische Massenmord wurde von SS-Einsatzgruppen mit der Hilfe der Deutsch-Lettischen-Hilfspolizei unter dem Kommando von Viktors Arājs und der Unterstützung anderer Polizeieinheiten begangen. Angehörige der Wehrmacht waren zu ‚Besuch’ bei diesen entsetzlichen Massenerschießungen, auch Jeckeln-Aktionen genannt, im Wald von Rumbula.

Friedrich Jeckeln, ein deutscher SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und Polizei und als Höherer SS- und Polizeiführer, unter anderem verantwortlich für die Massenmorde in Babyn Jar, im Ghetto von Riga und den Massenmorden in Rumbula, wurde 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet. Gegen den SS-Einsatzgruppenleiter Viktors Arājs erfolgte erst 1979 ein Prozess in Hamburg, in dem er zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Auszüge aus den Prozessakten geben die Tage in Rumbula aufs grausamste wieder:

 „Die Juden wurden wieder in Kolonnen zusammengestellt und zu Fuß über die Moskauer Straße auf die Landstraße nach Dünaburg getrieben. Die Kolonnen wurden von lettischen und deutschen Polizisten begleitet. Auch berittene Polizei war im Einsatz. In den Kolonnen gingen viele Frauen, Kinder und ältere Menschen. Nicht Gehfähige wurden wiederum auf Fahrzeugen hinausgefahren. So wurden auch Kranke aus dem jüdischen Krankenhaus im Getto mit Fahrzeugen abtransportiert. Die Kolonnen wurden von den Begleitmannschaften mit Schlägen angetrieben. Kinder, die auf den vereisten Straßen hinfielen, wurden von den nachdrängenden Menschen niedergetrampelt. Als die Kolonnen sich dem Wald von Rumbula näherten, mussten sie einen Absperring passieren, der von Deutschen gebildet wurde. Männer in SS-Uniform empfingen die Kolonnen. Ein Deutscher stand an einer großen Kiste, in die die Juden ihre noch vorhandenen Wertsachen werfen mussten. Manche waren schon bei Räumung im Getto von lettischen Polizisten ausgeplündert worden.  An der Kiste hörte man bereits die Schüsse aus den Maschinenpistolen. Die Juden wurden in das Spalier des Arajs-Kommandos getrieben. Sie wurden gezwungen, sich auszuziehen. Manche schrieen und weinten, andere wurden verprügelt. Die Menschen standen dann nackt oder auch in Unterwäsche an den Gruben, bis sie nacheinander hineingingen und von Deutschen mit Einzelschüssen aus Maschinenpistolen in das Genick oder in den Kopf erschossen wurden. Auch die Zeugen Frieda Michelson, Matis Lutrinsch, dessen Frau und die Zeugin Ella Medalje mussten sich in diesem Spalier entkleiden. Frau Michelson versuchte, ihre lettischen Arbeitspapiere  vorzuweisen. Doch einer der lettischen Posten gab ihr einen Faustschlag und rief, sie solle zu Stalin gehen mit ihren Dokumenten. Frau Michelson sah eine blonde Frau sich an den Mann wenden, der die Menschen in die Grube trieb. Diese Frau behauptete, sie sei mit einem Letten verheiratet. Frau Michelson nutzte diese Gelegenheit aus und ließ sich zu Boden fallen. Sie wurde für tot gehalten und überlebte an der Grube unter einem Berg von Schuhen, den andere Juden nach und nach über ihr aufhäuften. Der Zeuge Lutrinsch wurde gemeinsam mit einer Frau im Spalier gezwungen, sich auszuziehen. Da erblickte er Fahrer des Arajs-Kommandos, die Kleider der erschossenen Opfer auf Lastwagen luden. Er flehte sie an, ihn und seine Frau zu retten. Die Fahrer hörten auf seine Bitte und verbargen das Ehepaar Lutrinsch unter den Kleidern. Sie fuhren sie mitsamt den Kleidern in die Waldemarstraße 19. Dort wurden beide untergebracht und arbeiteten weiter für das Kommando Arajs. Arajs selbst erschien eines Tages in der Garage, um zu sehen, wo der gerettete Jude sei. Er sah Lutrinsch, lachte und ging weiter. Am frühen Nachmittag gegen 1-2 Uhr wurde das medizinische Personal des jüdischen Krankenhauses im Getto mit Autos abgeholt. Unter ihnen befand sich die Zeugin Medalje mit ihrer Schwester. Sie wurden über die Moskauer Straße nach Rumbula hinausgefahren. Dort sahen sie eine lange Kolonne Menschen vor sich und wurden wie die anderen an der Kiste für die Wertsachen vorbei in das Spalier zum Auskleiden getrieben. Als Frau Medalje ihren Mantel ablegte, erhielt sie einen Schlag in den Rücken und fiel hin. Als sie sich wieder erhob, erblickte sie den Mann, der sie geschlagen hatte, und erkannte ihn als einen derjenigen, die sie im Stab des Arajs-Kommandos in der Waldemarstraße 19 gesehen hatte. Sie flehte ihn an, er solle sie retten und behauptete dabei, sie sei keine Jüdin. Er antwortete ihr, er könne ihr nicht helfen; sie solle sich an seinen Vorgesetzten wenden. Frau Medalje erblickte nicht weit entfernt Arajs und wandte sich an ihn. Ihre Bitte, sie zu retten, wies er jedoch zurück. Sie kehrte zu dem Mann zurück, der sie geschlagen hatte und bat ihn noch einmal, sie zu retten. Nun forderte er sie auf, mit Deutschen zu sprechen. Sie trat zu einem deutschen Offizier und sagte, sie sei keine Jüdin. Er fragte sie, auf welche Weise sie dorthin gekommen sei. Sie erwiderte, sie sei mit einem Juden verheiratet gewesen. Der Deutsche sagte ihr, wenn sie lüge, werde sie am nächsten Tag erschossen. Frau Medalje behauptete noch einmal, es sei wahr. Er befahl ihr, sich zur Seite zu stellen, ihren Mantel herauszuziehen und Schuhe anzuziehen. Es gesellten sich noch drei andere Frauen nach und nach zu ihr. Diese vier Frauen wurden nach längerem Warten von Hauptmann Cukurs, einem Offizier des Arajs-Kommandos, nach Riga in die Dienststelle Jeckelns gefahren. Am nächsten Tag wurden sie von Jeckeln verhört. Frau Medalje gelang es, mit Hilfe lettischer Bekannter einen lettischen Ausweis zu erhalten und zu überleben. Insgesamt sind der Jeckeln-Aktion mindestens 25100 Menschen aus dem Rigaer Getto zum Opfer gefallen. Davon sind 10600 am ersten Räumungstag und mindestens 13000 am 8. Dezember 1941 getötet worden. Höchstens 4500 Menschen haben die Jeckeln-Aktion im Kleinen Getto und im so genannten Frauengetto überlebt.“

Frida Michelson, geb. Fried, schrieb später ein Buch über ihre Erlebnisse: „Ich überlebte Rumbula“. Während der Shoah wurden 90% der Juden Lettlands in Rumbula und anderen Orten umgebracht. Als sich der Kriegsverlauf gegen die Deutschen wandte, wurden die Leichen im Wald von Rumbula ausgegraben und verbrannt. Im Laufe der Jahre wurde an diesem Ort eine Reihe von improvisierten Gedächtnistafeln aufgestellt. Im November 2002, 61 Jahre nach den Tötungen, wurde eine Holocaustgedenkstätte eröffnet.

Gedicht des Letten Ojārs Vācietis

Dicht vor den Augen des Waldes geh’ ich,
Die Wimpern der Kiefern streifen die Schulter.
Es seufzt ein weicher Erdhöcker unter dem Schritt …

Dies sind die einzigen Geräusche,
Und ich bleibe stehen,
Dass kein einziges mehr bleibt.

Und kann den Damm nicht mehr
Halten,
Den der Blick gebrochen.


Schreierfüllter Wald,
Schreierfüllter Wald.

Es schreien

Die auf den Kiefernstämmen erstarrten
Schauer –
Die vor Entsetzen rauh gewordene Borke.

Es schreien

Die über den lebendig Begrabenen aufgehäuften
Hügel –
Die noch bis zum Morgengrauen sich regenden
Erdhöcker.


Mein Puls hämmert

Und diesen Wald zu schlagen –

im Namen der Birken, die übermorgen wachsen,
im Namen der Kinder, die übermorgen kommen,
im Namen der Lippen, die nicht schreien wollen,
im Namen der Namen, die nicht sterben wollen.

Und dem Wald ins Angesicht

Schreie ich es selber nun:
„So einen Wald wie dich darf es heute nicht geben!“

Wie ein grüner Krater umschließt mich der Wald,
Eine grüne, zornige Stimme
Durchfährt mich wie ein Stromschlag:

Du sollst nicht vor meinen Augen Promenieren!
Du sollst dich nicht an meinen Wimpern Ergötzen!
Du sollst dich nicht mit meinen Höckern Begnügen!


Damit nicht alle Wälder der Erde so sind wie ich,
Stehe ich hier in Rumbula als ein Schrei,

Ein grünlicher Krater des Grauens zwischen den Feldern.


Ein jeder, der in mich einen Fuß gesetzt,
Wird zu meiner Zunge,
Meiner Flamme.

„Sei in mir gewesen – Und schrei!“

 

• Dokumentation der Erinnerung

Obwohl Historiker Rumbula als die zweitgrößte Massenerschießung nach Babi Yar in der Ukraine bezeichnen, ist der Horror von Lettland weitgehend unbekannt geblieben. Der erste Dokumentarfilm, der sich näher mit dem Massaker beschäftigt, »Rumbula’s Echo«, ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn es müssen Erinnerungen von lettischen Überlebenden und Augenzeugen gesammelt werden, die nun über 80 oder 90 Jahre alt und die über vier Kontinente verstreut sind. Schätzungen zufolge gibt es heute weltweit noch 140 Überlebende.

Im letzten Jahr, am 13. November 2011 nahmen 130 Menschen an dem jährlichen Gedenkgottesdienst der jüdischen Überlebenden von Lettland teil. Sie sahen 74 Minuten des sich in Arbeit befindlichen Dokumentarfilms. Bereits im Juli, zum 70. Jahrestag des Holocaustbeginns in Lettland, konnten jüdische Bürger Rigas ebenfalls Ausschnitte aus dem Film sehen. Am 6. Dezember  schließlich nahmen lettische Juden aus ganz Israel Busse zur Holocaustmahnstätte Yad Vashem, um dort am Gedenkgottesdienst für Rumbula teilzunehmen.

Foto 1: Der Marsch von Juden nach Rumbula – Quelle: memorialmuseum.org · Foto 2: Vor den Erschießungen – Quelle: rumbula.org · Foto 3: Gedenkstätte Rumbula – Quelle: myheimat.de

Lettischer Originaltitel: Rumbula Erstveröffentlichung: Padomju jaunatne v. 29. 10. 1964 Erschienen in: O. V. : Elpa (Riga: Liesma, 1966), S. 82 © O. Vācietis – Deutsch von Matthias Knoll

 

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