Jeanette Wolff • Mit Bibel und Bebel …
„Wer leidet, leidet allein.“ Fernando Pessoa
Jeanette Wolff, geborene Cohen wurde am 22. Juni 1888 in Bocholt geboren und verstarb am 19. Mai 1976 in Berlin. Sie war journalistisch tätig, aber ihr Hauptbetätigungsfeld war die Politik, bereits seit 1905 gehörte sie SPD an, in der sie aktiv bis zu ihrem Ende arbeitete. Bereits ihr Vater war ein aufrechter Sozialdemokrat und durfte deshalb als jüdischer Lehrer nicht unterrichten, so lebte die Familie Cohen vom Textilhandel, mehr recht als schlecht, doch die jüdischen Wurzeln, der Glauben, war immer ein Quell der Stärkung innerhalb der Familie, etwas was Jeanettes Leben tief prägen sollte. Jeanette Cohen war die älteste einer großen Kinderschar, die 1904 eine Ausbildung zur Kindergärtnerin in Brüssel absolvierte. Nach 5 Jahren kehrte sie nach Bocholt zurück, machte dort ihr Notabitur und wollte an sich studieren, doch sie lernte ihren späteren Ehemann, den Kaufmann Hermann Wolf kennen, den sie 1911 heiratete. Ihr Ehemann kam aus einer eher konservativen jüdischen Familie, so dass ihre Familie der Heirat skeptisch gegenüber stand, da diese fest im sozialistischen Milieu angesiedelt war. Doch Jeanette und ihr Mann setzten sich über alle Bedenken hinweg, gründeten ein Textilunternehmen und hatten drei Töchter. Später erzählte Jeanette Wolff, nicht ohne stolz, dass sie das erste Unternehmen waren, dass bereits 1912 den 8 Stunden Tag eingeführt hatte und sie damit sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Im ersten Weltkrieg musste Jeanette Wolff den kleinen Betrieb alleine weiterführen, weil ihr Mann und ihr Schwager zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Neben ihrer Arbeit in der Firma, im Haushalt und als Mutter arbeitete sie weiter engagiert in der Partei. 1916 wurde sie zum ersten Mal in ein Amt gewählt: Sie wurde Mitglied der Bocholter Armenkommission.
Nach dem kläglichen Zusammenbruch des kaiserlichen Obrigkeitsstaates wurde Jeanette Wolff im Frühjahr 1919 in die Bocholter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bis 1932 war sie Stadträtin, neben der Belastung durch Betrieb, Haushalt und die Erziehung der Kinder. Sie gehörte dem Ausschuss für private Wohlfahrtspflege an, war Mitglied in der Rechnungskommission und im Gesundheitsausschuss. Auch innerhalb der westfälischen SPD übernahm sie in den 20er Jahren mehr und mehr Ämter. Sie fiel vor allem durch ihre geschliffenen Reden auf, in denen sie auch vor Kritik an den eigenen Genossen nicht sparte und mehr gegenseitige Toleranz forderte. Hauptthema ihres politischen Engagements wurde, neben der Kommunalpolitik, die Auseinandersetzung mit den rechten Feinden der jungen Demokratie. Früh schon warnte sie vor der NSDAP. Den ‚Stürmer’, das antisemitische Kampfblatt der NSDAP, hatte sie ebenso aufmerksam gelesen wie Hitlers ‚Mein Kampf’. In den Wahlkämpfen wetterte sie mit scharfer Zunge und wohl vorbereiteten Argumenten gegen die Nazis. Jeanette Wolff scheute nicht einmal davor zurück, sich in Wanne-Eickel während einer NS-Parteiversammlung an das Rednerpult zu mogeln und Joseph Wagner, den späteren NS-Gauleiter für Westfalen-Nord, öffentlich bloßzustellen. Die Rache der ‚Braunhemden’ ließ nicht lange auf sich warten. Am Tag der Reichstagswahl vom 05.03.1933 wurde Jeanette Wolff von SA-Leuten in ‚Schutzhaft’ genommen. Zwei Jahre blieb sie inhaftiert. Im April 1935 kehrte sie zu ihrer Familie zurück, die inzwischen nach Dortmund verzogen war. Den Betrieb in Bocholt hatte ihr Mann aufgeben müssen; eine Tochter hatte nur klammheimlich noch Stoffe bei den Bauern auf dem Land verkaufen und so Geld zum Lebensunterhalt verdienen können. In Dortmund konnte die Familie nur mit Mühe Unterschlupf finden. „Juden unerwünscht“ – hieß es allerorten. Die Familie Wolff sah sich zahllosen Drangsalierungen und dem offenen Terror der Nazis ausgesetzt, der in wenigen Sätzen kaum zu beschreiben ist: Der Überfall während der Reichspogromnacht, bei dem SA-Leute um ein Haar die 85jährige Mutter aus dem dritten Stock der Dortmunder Wohnung geworfen hätten; die Zwangseinweisung der Familie in heruntergekommene so genannte ‚Judenwohnungen’ und schließlich die düstersten Jahre ihres Lebens, die Jahre der Deportation. Im Januar 1942 wurde die Familie getrennt. Die Mutter und ihre Schwiegermutter wurden hochbetagt in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie an Misshandlungen und Unterernährung starben. Eine Tochter wurde in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt, wo sie 1944 von einem SS-Mann erschossen wurde. Jeanette Wolff und ihr Mann wurden nach Riga deportiert. Im Arbeitslager Kaiserwald herrschten mörderische Bedingungen, unter den alltäglichen Qualen des SS-Terrors musste sie und tausende anderer Zwangsarbeit leisten. In den letzten Kriegswochen wurden beide nach Stutthof, ein Konzentrations- und Vernichtungslager in der Nähe von Gdansk transportiert. Hier sah Jeanette Wolff ihren Mann zum letzten Mal; er wurde weitergeschleust in Richtung Konzentrationslager Flossenbürg, kam dort aber nie an. Ausgehungert und entkräftet wurde er wenige Tage vor Kriegsende von einem SS-Kommando in der Oberpfalz ermordet. Jeanette Wolff wurde 1945 von der sowjetischen Armee befreit. Sie kehrte nach Deutschland zurück und blieb in Berlin. Von ihrer Familie hatte einzig ihre Tochter Edith überlebt.
Im Bezirk Neukölln nahm sie eine Stelle im Entschädigungsamt für NS-Opfer an, schrieb aber gleich wieder für die neu entstandene SPD Zeitung. Ferner schrieb sie ihre noch frischen Erinnerungen mit dem Titel ‚Mit Bibel und Bebel’ auf. Im Sommer 1946 erhielt sie das Angebot, bei der angesehenen amerikanischen Illustrierten ‚Life’ zu arbeiten. Doch Jeanette Wolf lehnte ab.
„Ich war der Ansicht, dass ich in Deutschland notwendiger gebraucht würde als Jüdin, als aufrechter Demokrat und Sozialdemokrat.“
In allen drei Beziehungen engagierte sie sich in den folgenden Jahren: mutig, temperamentvoll und besonnen, wie ihr Freunde und auch politische Gegner bescheinigten. Sie beteiligte sich am Aufbau der Jüdischen Gemeinde in Berlin, und sie zählte zu den profiliertesten Gegnern der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur ‚Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands’, der SED. Jeanette Wolf wurde Berliner Stadtverordnete; zwischen 1951 und 1961 vertrat sie die geteilte Stadt als Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Hier setzte sie sich hauptsächlich für die Entschädigung der NS-Opfer ein.
In Haushaltsdebatten rechnete sie penibel vor, mit welch hohen Pensionen ehemalige Nazi-Funktionäre und Generäle von Staats wegen versorgt wurden, während die NS-Opfer und ihre Hinterbliebenen noch immer auf angemessene Entschädigung warteten. Wiederholt auch kritisierte sie, dass nicht wenige Nazis in Staat und Gesellschaft wieder Amt und Würden bekleideten. Jeanette Wolff bemängelte, dass sich die junge westdeutsche Republik zu wenig mit der ‚jüngsten Vergangenheit’ auseinandersetze – ein Thema, mit dem sie auch innerhalb ihrer Partei mehr als einmal aneckte. Herbert Wehner, einer ihrer besten Freunde, stärkte ihr immer wieder den Rücken, wenn sie an der Wand des Schweigens der 50er Jahre zu zerbrechen drohte. So unermüdlich sie sich in der Politik einsetzte, Politik war ihr nicht alles im Leben. Sie, die aus ihrem jüdischen Glauben Energie schöpfte, hatte sich schon früh am Aufbau der jüdischen Gemeinde in Berlin beteiligt.
Zwischen 1965 und 1975 war sie stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Seite an Seite mit dem TV-Entertainer Hans Rosenthal, der sie als sein Vorbild bezeichnete, als
„eine großartige Frau und kluge Politikerin“. Eine andere Weggefährtin bemerkte: „Ihre ungewöhnliche Vitalität stellte sie in den Dienst der Versöhnung, der Bekämpfung von Vorurteilen und Hass.“
Jeanette Wolff habe sich für ein gutes Verhältnis gerade zwischen Juden und Christen eingesetzt…
„keine selbstverständliche Haltung für eine Jüdin, die so gelitten hatte“.
Kurz vor ihrem Tod hatte die 88jährige Jeanette Wolf ihr treibendes Motiv folgendermaßen umschrieben:
„Ich habe überlebt, und das verpflichtet mich im Namen der Toten und Lebenden, mitzuhelfen zur Verständigung unter den Menschen.“
Sie wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt: mit dem Ehrentitel ‚Stadtälteste von Berlin’ ausgezeichnet, sie wurde zum Ehrenmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte ernannt, sie erhielt das Bundesverdienstkreuz und vieles mehr. Jeanette Wolff wurde 1976 in einem Ehrengrab auf dem Friedhof der jüdischen Gemeinde in Berlin-Westend beigesetzt.
Bild 1: Portrai Jeanette Wolff – Quelle: wikimedia.org · Bild 2: Jeanette Wolff mit Heinz Galinski – Quelle: jwa.org · Bild 3: Jeanette Wolff 1960 – Quelle: wikimedia.org · Bild 4: Buchtitel über Jeanett Wolff – Quelle: google.com
Hinterlasse einen Kommentar