Lilli Jahn

Lilli Jahn

Lilli Jahn • Verfolgt + Gedemütigt + Vernichtet

„Der Vater soll doch noch mal hingehen zur Stapo und darauf bestehen, dass ich endlich frei komme. Und er soll ganz bald hingehen! Bitte, bitte, bitte!“ schreibt Lilli Jahn bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde …

Lilli Jahn, geb. Schlüchterer wurde am 5. März 1900 in Köln und verstarb vermutlich am 19. Juni 1944 in Auschwitz-Birkenau. Sie war eine Ärztin jüdischen Glaubens und Opfer des Nationalsozialismus. Ihre Briefe gelten als wichtiges literarisches Zeitzeugnis. Lilli Jahn wurde als Lilli Schlüchterer, Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns im liberalen assimilierten jüdischen Milieu der Stadt Köln geboren. Für ihre Zeit erhielt sie eine für ein Mädchen sehr fortschrittliche Erziehung: 1919 machte sie an der Kaiserin-Augusta-Schule ihr Abitur und studierte anschließend in Würzburg, Halle (Saale), Freiburg im Breisgau und Köln Medizin. Ihre ein Jahr jüngere Schwester Elsa studierte Chemie. 1924 schloss sie ihr Studium erfolgreich mit dem Staatsexamen ab und promovierte mit einem Thema aus der Hämatologie. Sie arbeitete zunächst als Praxisvertretung sowie im Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln. Ihren Plan, eine Facharztausbildung zur Kinderärztin zu machen und sich in Halle niederzulassen, gab sie auf, als sie den gleichaltrigen evangelischen Arzt Ernst Jahn kennen lernte und ihn gegen die Einwände der Eltern 1926 heiratete. Allem Anschein nach war die Verbindung eine zuweilen einseitige Angelegenheit. Sie schreibt ihm wunderbare, leidenschaftliche Liebesbriefe; seine Antwortbriefe sind nicht erhalten, aber offenbar waren sie im Ton sehr viel reservierter. Denn er liebt zunächst eine andere Frau, und erst als diese ihn verlässt, entscheidet er sich für Lilli. Während sie ihren Beruf weiter ausüben möchte, will er sie in die traditionelle Frauen- und Mutterrolle zurückdrängen. Und von Anfang an liegt der in der Weimarer Republik grassierende Antisemitismus wie ein großer Schatten über ihrer Beziehung.

„Und dann habe ich Sorge“, schreibt sie ihm im März 1925, „ob nicht Dir die Ehe mit einer Jüdin in Deinem Beruf und dem Vorwärtskommen Schwierigkeiten bereiten wird, und ich bitte Dich von Herzen, mir mit aller Offenheit darauf zu antworten.“

Diese Offenheit wird Ernst nie aufbringen, und das sollte ihr zum Verhängnis werden. Ernst Jahn hatte wie sie Medizin studiert und suchte, nachdem das geerbte Geldvermögen, wegen der Inflation, sich in nichts aufgelöst hatte, händeringend nach einer festen Anstellung. Unterschiedlicher hätten die Temperamente nicht sein können: Sie, eine lebenslustige junge Frau, vielseitig interessiert an Kunst, Literatur, Musik; er, ein früh verwaister Eigenbrötler mit einem Hang zur Schwermut und Frömmelei. Es bedurfte einiger Überredungskunst von Seiten Lillis, um den Widerstand ihrer Eltern gegen eine Heirat zu überwinden. 


Die Mutter warnt vor den „Gefahren einer Mischehe“, der Vater befürchtet, dass seine Tochter in Immenhausen, einer Kleinstadt nördlich von Kassel, wo Ernst sich schließlich als praktischer Arzt niedergelassen hatte, nicht genügend geistige und kulturelle Anregungen finden könne. In einem anrührenden Brief vom Januar 1926 beschwört der Vater seinen künftigen Schwiegersohn, seiner Tochter die Treue zu halten.

„Wir haben Dir ein Teil des Liebsten und Besten, was wir haben, gegeben.“

Nach der Trauung im August 1926 zieht das Paar nach Immenhausen. Das ungleiche Paar zog ins nordhessische Immenhausen, wo sie eine gemeinsame Hausarztpraxis eröffneten. Die fünf gemeinsamen Kinder Gerhard, Ilse, Johanna, Eva und Dorothea wurden evangelisch getauft und erzogen. In der nordhessischen Region verkehrten die Jahns mit den Honoratioren des Ortes. Der jüdische Glaube der beliebten Hausärztin, die regelmäßig die Synagoge in Kassel besuchte, war zunächst kein Thema. Die junge Familie baute ein Siedlungshaus in der heutigen Lindenstraße und verlegte die Praxisräume, einige Monate nach dem Hitler zum Reichskanzler gewählt wurde, also 1933 bekommen die jüdische Ärztin und ihr evangelischer Ehemann die ersten Auswirkungen ihrer ‚Mischehe’ zu spüren: Die Nationalsozialisten rufen zum Boykott ihrer Praxis auf. Lilli erhält wegen ihrer Religions- beziehungsweise Rasse-Zugehörigkeit Berufsverbot. Ernst praktiziert schließlich weiter. Der Alltag verändert sich für die Arztfamilie völlig. Eben noch hoch geachtet, wenden sich viele Freunde und Bekannte von ihnen ab. Diskriminierungen gegenüber Lilli nehmen öffentlich und privat zu. Als Jüdin ist es ihr nicht erlaubt, ihre eigenen finanziellen Mittel zu behalten. Sie muss sie dem nicht jüdischen Ehemann überschreiben. Sie wurde zunehmend im Ort geschnitten und lebte weitgehend isoliert. Nur durch zahlreiche Briefe, die sie an Freunde und Verwandte schrieb, blieb sie mit der Außenwelt verbunden. Bald war Lilli Jahn die einzige Jüdin in Immenhausen. Lillis Schwester Elsa und ihre Mutter Paula, der Vater war bereits 1932 gestorben, konnten rechtzeitig nach England emigrieren. Ernst Jahn lässt sich schließlich durch den nationalsozialistischen Rassenwahn aufreiben.


Er trennt sich von seiner jüdischen Ehefrau, die 1940 das fünfte Kind in Immenhausen zur Welt gebracht hatte. Obwohl ein befreundeter Rechtsanwalt ihm dringend abrät, seine Ehe mit Lilli aufzulösen, weil man nicht wissen könne, wie lange seine Frau dann noch vor Übergriffen geschützt sei, lässt Ernst Jahn sich im Oktober 1942 scheiden. Einige Wochen nach der Scheidung 1942 heiratet Ernst Jahn eine nicht jüdische Kollegin, die auch ein Kind von Ernst bekommt und bei deren Niederkunft ihr Lilli tatkräftig zur Seite steht. Im Sommer 1943 ist Lilli Jahn die einzige Jüdin in Immenhausen. Familiär und öffentlich befindet sie sich in einer aussichtslosen Isolation. Auf Veranlassung des amtierenden Bürgermeisters muss sie zusammen mit ihren fünf Kindern im Juli 1943 Immenhausen verlassen. Sie zieht mit ihren vier Töchtern und dem Sohn nach Kassel in die Motzstraße 3. Als provisorisches Namensschild heftet sie ihre Visitenkarte „Dr. med. Lilli Jahn“ an die Tür an und verstößt damit gleich gegen zwei Nazivorschriften: das Verbot, den Doktortitel zu führen, und die Verordnung, den Namen Sara dem Vornamen hinzuzufügen. Sie wird bei der Gestapo denunziert, verhört, noch einmal freigelassen, dann aber erneut festgenommen und ins ‚Arbeitserziehungslager’ Breitenau gebracht. Dort muss sie Zwangsarbeit in einer Pharmafabrik leisten, zwölf Stunden am Tag bei völlig unzureichender Ernährung. Von einem Tag auf den anderen sind die Kinder weitgehend sich selbst überlassen. Ilse, die 14-Jährige, übernimmt die Rolle der Ersatzmutter, sorgt in rührender Weise für die jüngeren Schwestern. Und sie schreiben Briefe, Ilse und Johanna fast jeden zweiten Tag. Darin lassen sie ihre Mutter teilhaben an den Sorgen und kleinen Freuden ihres Alltags, sprechen ihr Mut zu und geben ihr immer aufs Neue Zeichen ihrer Liebe und Verbundenheit. Mittlerweile hat der Krieg auch die Restfamilie eingeholt. Gerhard, der 16-Jährige, muss als Luftwaffenhelfer Dienst tun. Viele Nächte müssen seine Schwestern im Luftschutzkeller zubringen. Am Abend des 22. Oktober 1943 legen britische Bomber die Kasseler Altstadt in Schutt und Asche; auch die Wohnung der Jahns brennt vollkommen aus. Den Kindern gelingt die Flucht aus dem Inferno.

Ein wahnsinniger Funkenregen umgab uns. Hannele und Eva trugen die Decken und Koffer … und ich unser teuerstes Gut, unser Dorle. Dieser Lauf durch Feuer und Hitze war ein Lauf fürs Leben durch den Tod“,

so schildert Ilse der Mutter das traumatische Erlebnis dieser Bombennacht. Anfang November 1943 richtet Lilli einen verzweifelten Hilferuf an ihren geschiedenen Mann, er möge doch in ihrer Sache ein Gesuch an die Gestapo richten. „Ihr ahnt nicht, was ich seelisch und sonst auch aushalte und durchmache, und doch ist es nichts gegen diese quälende Angst und Sorge, ob ich überhaupt wieder rauskomme.“ Doch offensichtlich hat Ernst Jahn nichts unternommen; ob er durch eine Intervention das Schicksal Lillis noch hätte beeinflussen können, ist allerdings auch zweifelhaft. 


Im März 1944 entschied die Kasseler Gestapo, Lilli mit einem Sammeltransport ins Vernichtungslager Auschwitz zu schicken. Während einer Zwischenstation in Dresden am 21. März konnte Lilli ihrer Familie noch eine Nachricht zukommen lassen: „Morgen Abend werden wir dann in Auschwitz sein. Die Mitteilungen darüber, wie es dort sein soll, sind sehr widersprechend … ich werde weiter tapfer sein und fest die Zähne zusammenbeißen und an Euch denken und durchhalten, wenn’s auch noch so schwer sein wird.“

Jahrzehnte später wurden die Briefe Lilli Jahns bei dem dann verstorbenen Sohn Gerhard, der unter der Regierung Willi Brandts Justizminister war, gefunden und vom Enkel Lilli zu einem Buch zusammengefügt, dass auf bedrückende Weise einen Einblick in das Leben und Leiden der Verfolgten jüdischen Menschen gibt. Es ist kein unbedingtes Zeitdokument, dass da erstellt wurde sondern ein Leiden, dass sich herzzerreißend ließt, denn es ist so voller Liebe zu den Kindern und so Mut machend für diese, dass jeder Kommentar übrig wäre. Literarisch ist es als Zeitzeugnis, ähnlich dem Tagebuch der Anne Frank, zu sehen.

Bild 1: Lilli Jahn – Quelle: spiegel.de · Bild 2: Lilli Jahn mit ihren Kindern – Quelle: lilli-jahn-schule.de · Bild 3: Ausweis der Lilli Jahn – Quelle: spiegel.de · Bild 4: Buchtitel ‚Mein verwundetes Herz‘ – Quelle: jacobus-theater.de

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