Paul Schlesinger

Paul Schlesinger

 

Paul Schlesinger • Sling war sein Pseudonym

Paul Felix Schlesinger wurde am 11. Mai 1878 in Berlin geboren und verstarb am 22. Mai 1928 ebenfalls in Berlin. Er war der bekannteste Gerichtsreporter der Weimarer Republik und  veröffentlichte seine Reportagen unter dem Kürzel Sling. Paul Felix Schlesinger, hat selbst erzählt, wie er als junger Mensch seinen Zugang zur Welt der Strafjustiz fand. Er sei Lehrling  „in einer sehr alten Firma der Textilbranche“ gewesen. Gelegentlich habe er mit dem Hausdiener Justav auf dem Packhof zu tun gehabt, und es sei Tradition gewesen, „dass jede Erledigung auf dem Packhof fünf Stunden dauerte“. Tatsächlich gingen Justav und der Lehrling zunächst in die Destille frühstücken.

„Sodann zogen sie in gehobener Stimmung in das nahe gelegene Kriminalgericht, um ein paar Verbrecher aburteilen zu sehen. So kam ich nach Moabit.“

Für Nichtberliner: Moabit ist nicht nur ein kleiner Ortsteil im Bezirk Tiergarten, es ist auch Synonym für das Kriminalgericht mit Untersuchungsgefängnis. Ob das eine Anekdote ist oder wahr muss dahingestellt bleiben eins ist sicher, er brach die Lehre ab und ging nach München. Dort fasste er auf ganz anderem Gebiet Fuß. In München gehörte er eine Zeit lang dem Kabarett ‚Die elf Scharfrichter’ an. Musikkritiken von ihm erschienen in der ‚Schaubühne’ und der berühmten Kulturzeitung ‚Die Weltbühne’, literarische Texte auch im ‚Simplicissimus’, einem Satiremagazin. Daneben erschienen Romane und Kinderbücher und die erfolgreiche Komödie ‚Der dreimal tote Peter’, uraufgeführt 1927 mit Therese Giehse und Heinz Rühmann. Dann trat er in die Redaktion einer Schweizer Zeitung ein, ging für ein paar Jahre nach Paris, kehrte als Ullstein- Korrespondent nach München zurück, „geschätzt, ohne hervorzuragen“, schreibt Moritz Goldstein, der später Schlesingers Nachfolger als Gerichtsreporter bei der Voss’schen Zeitung wurde. Als die Inflation die Verlage zum Sparen zwang, wurde Schlesinger nach Berlin beordert und fing an, kleine feuilletonistische Episoden aus dem Berliner Alltagsleben zu schreiben.


Auf der Suche nach Themen erinnerte er sich an seine Erlebnisse mit Justav im Moabiter Strafgericht. „Nun bin ich wieder in Moabit“, schrieb er später.

„Ich kann jetzt alle Tage nach Moabit gehen. Nur Justav ist nicht mehr da. Er fehlt mir sehr.“

Nun, im Gerichtssaal, tritt das eigentliche journalistische Talent Paul Schlesingers mit einem Schlag machtvoll zu Tage. Er sieht im Gerichtssaal das Leben schlechthin, pralles, dramatisches, dürftiges, armseliges Leben. Er schaut genau hin, er hört genau zu, er reflektiert, was er gehört und gesehen hat, er bringt sich selbst ganz und gar in seine Geschichten ein. Er schert sich keinen Deut um journalistische Konventionen.

„Es sind Stimmen laut geworden, die mir Mangel an Objektivität vorwerfen“,

schreibt er.

„Ja, nichtjuristische Freunde haben mir gelegentlich Komplimente gemacht: Es gehöre doch eine große Phantasie dazu, die nüchternen Vorgänge so auszuschmücken. Ich habe darauf zu erwidern, dass ich mich selbst für einen durchaus phantasielosen Menschen halte. Ich habe kein ernsteres Bestreben, als die Dinge so zu zeichnen, wie ich sie sehe.“

Sling hat über große Mordprozesse geschrieben, aber diese Berichte sind es nicht, die im Gedächtnis bleiben. Es sind die Miniaturen aus dem Bereich der Alltagskriminalität. Nur ein einziges Textbeispiel, übertitelt: 


„Der böse Mann und die böse Frau“. Nach sechs Jahren unglücklicher Ehe hat die Frau mit dem Beil auf den Kopf des Mannes geschlagen. Er blieb am Leben, sie muss sich wegen versuchten Totschlags verantworten: „In dieser Ehe gab es keine Unterhaltung, kein abendliches Ausgehen, kein Kino, keinen Tanz. Es waren zwei stille, ordentliche, aufs Sparen bedachte Leute. Die Eintönigkeit wurde zum Feind ihrer Tugenden. Sie wussten nicht, was sie entbehrten – das Leben mit seinen Spielen, mit seinem Genuss. Und da sie nicht ins Kino gingen, kam es zu ihnen, mit Mord und Totschlag. Das ungelebte Leben brach aus der Frau heraus. Von dem Ton, der zwischen beiden herrschte, gibt ein Brief Kunde, den der Mann geschrieben hat. Der Inhalt ist belanglos. Aber er überschreibt ihn: ‚Meine böse Frau’, und er unterschreibt: ,Dein böser Mann’. Es ist so armselig ernst gemeint, so ungeschminkt, ohne einen schmeichelnden oder besänftigenden Oberton.“

Berlinisches Volkslied. Am 25. August 1926 erscheint in der Voss’schen Zeitung der Text, in dem Sling alle seine Erfahrungen im Gerichtssaal in einem nur knappe hundert Zeilen langen, bitter-ironischen Text zusammenfasst:

„Der Mensch, der schießt“: „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. (…) Den Kaffeekessel, der explodiert, schickt man zum Klempner, den Menschen ins Gefängnis. Eine Weile hat man sich vorgestellt, der Mensch könne die Gelegenheit benutzen, sich im Gefängnis zu bessern. Man hat aber die Erfahrung gemacht, dass von dieser Gelegenheit höchst selten Gebrauch gemacht wird, dass der Mensch vielmehr in den meisten Fällen völlig verdorben zur Menschheit zurückkehrt. Man erzielte, auf den Kaffeekessel angewendet, die Wirkung, als ob man ihn nicht zum Klempner geschickt, sondern nun erst recht mit den Füßen zertrampelt und auf den Kehricht geworfen hätte.“

Schlesinger prägte mit seinen feuilletonistischen Gerichtsreportagen ein ganzes Genre. Er vermied den Protokollstil ebenso wie die reißerische Kolportage, sondern gestaltete seine Prozessberichte wie Miniaturdramen aus dem Justizalltag, durchsetzt mit Ironie und gelegentlichem Spott oder auch mit Gesellschaftskritik. Schlesinger verzichtete dabei bewusst auf den Anspruch der objektiven Darstellung:

„Ich bin gewiss imstande, ich habe es gelernt, den Bericht zu schreiben, den man im Grunde deshalb objektiv nennt, weil der die Ansicht des Richters ausspricht oder ihr wenigstens nahe zu kommen versucht. Aber ‚richtig‘ ist dieser richteroffiziöse Bericht schon deshalb nicht, weil im Gericht ebenso wenig was richtig ist wie sonst im Leben. Wie oft möchte man sich einmischen, nur weil der Angeklagte nicht die Sprache des Richters, der nicht die Sprache des Angeklagten versteht.“

Am 22. Mai 1928, wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag, starb Schlesinger überraschend an einem Herzinfarkt. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf. So wurde Schlesinger zum einflussreichsten Gerichtsreporter der 1920er Jahre. Seine Haltung trug ihm den Ruf ein, das „Gewissen von Moabit“ zu sein. Unter dem Titel „Richter und Gerichtete“ erschien schon kurz nach seinem Tod eine Auswahl seiner zwischen 1921 und 1928 erschienenen Reportagen unter seinem bekannten Kürzel Sling. Herausgeber war Robert Kempner, später Ankläger der USA im Nürnberger Prozess gegen die NS-Kriegsverbrecher. Das Vorwort schrieb der frühere Justizminister Gustav Radbruch. Diese und ähnliche Sammlungen mit Arbeiten Slings wurden später auch in der Bundesrepublik und in der DDR aufgelegt. Gerhard Mauz, der bekannte Gerichtsreporter des SPIEGELs, nannte Schlesinger den „einzigen wirklich legendären Gerichtsberichterstatter Deutschlands.“

Ferdinand von Schirach, heute bekannter Strafverteidiger und Autor aus Berlin schrieb über Paul Schlesinger:

„Sling war der bedeutendste Gerichtsreporter dieser entfesselten Zeit. Er verstand den Strafprozess, weil er den Menschen verstand. Und er ließ ihm seine Würde.“

Bild 1: Zeichnung Justizia – Quelle: blogspot.com · Bild 2: carstenbenke.de · Bild 3 – Bild 5: Buchcover der entsprechenden Verlage, die Bücher sind noch, oft antiquarisch, erhältlich.

Hinterlasse einen Kommentar

Your email address will not be published.