Ruth Rewald-Schaul • die Tochter folgte ihr nach Auschwitz
Ruth Rewald, verheiratete Schaul, wurde am 5. Juni 1906 in Berlin geboren und endete 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie war Jüdin und eine engagierte Kinder- und Jugendbuchautorin. Ruth Rewald studierte zunächst in Berlin, später in Heidelberg Jura, brach das Studium jedoch vor dem Abschluss ab. Daraufhin verfasste Rewald Kurzgeschichten, die in verschiedenen Zeitungen erschienen. Sie hatte ihr schriftstellerisches Talent erkannt und wand sich der Arbeit zu, die sie erfüllte.
1929 heiratete sie den Rechtsanwalt Hans Schaul und floh mit ihm, nachdem er als Jude nicht mehr als Rechtsanwalt tätig sein durfte, 1933 bald nach dem die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nach Paris. Dort arbeitete Ruth Schaul, denn sie nahm den Namen ihres Mannes an, nur in ihren Publikationen benutzte sie noch ihren Mädchennamen, als Buchhändlerin und schrieb weiter an ihren Büchern. Ihr Mann Hans kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus und so reiste ihm seine Frau nach und lebte in die Nähe von Madrid und blieb dort fünf Monate. 1937 kam ihre Tochter Anja zur Welt. Bereits ein halbes Jahr später nahm Ruth eine Beschäftigung im Kinderheim ‚Ernst Thälmann’ der Internationalen Brigade auf und kümmerte sich dort um Waisenkinder und Kriegsopfer. 1938 kehrte sie nach Frankreich zurück und schrieb dort ihr Buch ‚Vier spanische Jungen’. 1940 floh Ruth Schaul mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten aus Paris in das Dorf Les Rosiers-sur-Loire, dort wurde sie am 17. Juli 1942 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Das letzte Lebenszeichen von ihr ist eine Karte, die sie ihrem Mann schrieb. Schaul war zu diesem Zeitpunkt in einem französischen Lager in Djelfa interniert und konnte seiner Familie nicht beistehen. Er durchlief viele Lager und konnte durch Verbindungen zu Genossen der KPD über Nordafrika nach Russland entfliehen. Dort überlebte er den Holocaust. Ganz anders erging es seiner kleinen Tochter Anja, die nun von ihrer Mutter getrennt, zuerst bei einer Nachbarin lebte, dann aber bei ihrer Lehrerin Mademoiselle Renée Le Moine. Diese Lehrerin und mit ihr einige Helfer versuchten alles um dieses verlassene Kind einigermaßen fröhlich in den Tag blicken zu lassen. Doch die Verhältnisse ließen das nicht zu.
Aus einem Brief- beziehungsweise Kartenwechsel bekommt man einen Einblick in die Geschehnisse um die kleine Anja Schaul. In einem Brief von Anjas damaliger Lehrerin, Renée Le Moine, findet sich eine Bestätigung für diese Aussage und weitere Einzelheiten. Er enthält eine authentische Schilderung der Vorgänge um Anja, die in ihrer anrührenden Unmittelbarkeit kommentarlos dokumentiert werden soll. Sie schreibt:
„Ihre Frau (gemeint ist Ruth Rewald) brachte Ihre kleine Tochter zuerst in eine Privatschule (eine so genannte freie, eine kirchliche und kostspielige), aber nur für eine kurze Zeit. Ich meine, Anja kam Anfang des Schuljahres 1941/42 in meine „Kleinkindklasse“. Dank ihrer schnellen Auffassungsgabe konnte sie sich schnell in die Gruppe der Erstklässler einfügen. Sie lernte lesen, obwohl sie erst vier Jahre und ein paar Monate alt war. Sie übersprang dann die 2. Klasse und ging zu meiner Kollegin in die 3. Klasse, wo sie Klassenbeste wurde. Wie das für ihre Zukunft sprach! …Sie (Anja) kam nicht direkt zu mir. Als Frau Schaul festgenommen wurde, breitete Frau Tessier, eine inzwischen verstorbene Nachbarin, theatralisch die Arme nach dem Kinde und nahm es zu sich. Ich habe sie besucht und am Loire-Strand getroffen, wo wir die Sommernachmittage verbrachten. Sie sprach schwülstig. Ich war eher schweigsam und misstrauisch. Zum Schulanfang 1942 fühlte ich, wie sie mir freundlicher wurde. Sie fragte, warum ich nicht Anja zu mir nähme. Ich habe zugesagt. Und eines schönen Abends im Oktober brachte sie mir Anja mit einem Koffer, der nur einige Anziehsachen beinhaltete, und wenig liebenswürdige Worte. Sie gab mir auch Anjas Lebensmittelkarten, allerdings ohne die Fettmarken. Diese Frau hat auch Frau Schauls Wohnung – ein Zimmer und eine kleine Küche – von ihren armseligen Sachen geleert. Ich weiß nicht, ob sie geschriebene Papiere gefunden hat. Für diese habgierige Frau war alles wertlos, was nicht verkäuflich war. Sie besaß die Unverschämtheit, der Familie Renaud, die Frau Schaul am Atlantik beherbergt hatte, die Quittung über die wenigen Kleidungsstücke Anjas, die sie mir gab, zu schicken. Ich besitze noch dieses Papier, das die Renauds mir gaben. Eines Tages kamen aufgeregte Nachbarn zu mir und berichteten, wie Frau Tessier sich einen Klafter Holz – Frau Schauls Vorrat für den Winter – zu eigen machte. Sogar Frau Bougiau, die Frau des Bürgermeisters und Josettes Mutter, war erschüttert. Ich fand es aber vorsichtiger, nichts zu sagen und mich nicht zu rühren: ich hatte Angst vor dieser Frau, dass sie sich rächt und uns möglicherweise anzeigt. Alle diese Einzelheiten sind schäbig. Es war aber Krieg mit all den Schwierigkeiten des Lebens.“ Weiter im Brief schrieb sie: „Die Leute, die mir halfen waren Herr und Frau Renaud (Sainte Anne-Loire-Atlantique). Sie hatten Frau Schaul während der Flucht nach Saint Nazaire beherbergt und die kleine Anja gepflegt. Sie haben sich immer um sie gesorgt, während sie bei mir war. Im Frühling 43 hat mich Frau Renaud besucht. Frau Bougiau (Josette Geffards Mutter) gab mir Josettes alte Kleidchen und Unterwäsche. So konnte ich Anja kleiden. Die Stadtverwaltung unterstützte mich, denn ich durfte mit Anja kostenlos zum Arzt gehen und das Schulessen (Mittagessen) war für sie kostenlos. Darüber hinaus habe ich aber keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen. Es gab auch Widerstandskämpfer, die von den Deutschen zum Arbeitsdienst eingezogen waren und in deutschen Werkstätten in La Rochelle Anjas Kinderbett und Puppenmöbel angefertigt haben. Es waren Widerstandskämpfer aus Saumur, die ihr (kostenlos) das kleine blaue Fahrrad beschafft haben. Aber all dies zählt nicht viel im Vergleich zu dem Leid, das mir Anjas Schicksal bereitete. Ich habe lange geglaubt, sie käme zurück! Weiter schreibt die Lehrerin: „Mir fehlt der Mut zu schildern, wie am Morgen des 25. Januar 1944 die deutsche Polizei in unsere Schule eindrang, sowie unsere Betroffenheit zu beschreiben. Es war schwierig, zu leugnen. In diesem kleinen Städtchen kannte jeder den Aufenthalt Anjas bei ihrer Lehrerin. Wir wurden mit Sicherheit angezeigt, in dieser Zeit der Furcht und der Feigheit. Ich konnte mich dank eines Attestes des heute verstorbenen Arztes einen Monat krankschreiben lassen, um in Sachen Rettung von Anja Behördengänge zu machen, zum Kultusministerium, zum Polizeipräsidium, zur Gestapo in Angers und dann auch in Paris. Aber es half nichts. Dann habe ich erfahren, dass Anjas Unglücksgefährten, Frau Keller und ihre drei Kinder, sich in Drancy um sie gekümmert haben. Aber die Abfahrt nach einem unbekannten Ziel sollte rasch folgen. Anja war verloren! Ich kann nicht weiter schreiben. Entschuldigen Sie mich. Anbei einige Bilder und Briefe und meine ganze Trauer.“
Anjas Vater erreichen unterdessen mit Datum vom 23. Oktober 1942 je eine Karte seiner Tochter und ihrer Lehrerin.
Anja schreibt ihm: „Mein liebes Papachen, Mama ist fort. Ich bin bei meiner Lehrerin. Ich weine nach meiner Mama. Meine Lehrerin nenne ich Mamette. Ich habe an Madame Renaud geschrieben. Ich habe eine schöne Puppe, die schlafen kann. Sie ist als Bretonin gekleidet. Ich kann schon ganz allein das Radio anstellen. Ich umarme Dich ganz fest.“ Die Lehrerin schreibt am gleichen Tag: „Herr Schaul, bei Schulbeginn im Oktober habe ich Ihre hübsche kleine Tochter zu mir genommen. Sie wohnt jetzt bei mir und macht mir große Freude. Ich hoffe, Sie Ihnen erhalten zu können. Obwohl sie fließend liest, behalte ich sie dieses Jahr in meiner kleinen Vorschulklasse, wo die Arbeit noch ungebundener und fröhlicher ist. Sie wird Ihnen regelmäßig schreiben. Anja hat mir gesagt: ‚Jetzt, wo ich bei ihnen bin, müssen sie meinem Papa auch Pakete schicken‘ …und vieles andre mehr. Rauben Sie ihr nicht diese Freude und geben Sie mir die nötigen Hinweise, damit ich Ihnen von Zeit zu Zeit ein Päckchen schicken kann. Mir mangelt es nicht an Mehl und Brot. Madame Bougieau, die Frau des Bürgermeisters, interessiert sich sehr für Anja. Sie hat großzügigerweise ihre Wintersachen ergänzt. Anja hat sich über die warmen und schicken Sachen sehr gefreut. Sie können beruhigt über das Schicksal Ihrer lieben kleinen Tochter sein. Empfangen Sie meine besten Grüße.“
Am 3. November 1942 schreibt die Lehrerin erneut an Hans Schaul. Darin teilt sie ihm mit:
„Soeben habe ich die Karte gelesen, die Sie am 13. Oktober Herrn Bougiau geschrieben hatten. Ich versichere Ihnen, dass ich mich sehr freue, Ihre Kleine jetzt bei mir zu haben. Es ist nicht möglich, sie zu Ihren Freunden zu schicken. Frau Schaul hatte selbst darum gebeten, dass Anja zu mir kommt, falls sie Les Rosiers nicht verlassen darf. Und diesen Wunsch möchte ich respektieren. Frau Schaul verbrachte bei mir ihren letzten schönen Abend vom 14. Juli. Sie war glücklich, frei rauchen und erzählen zu können und teilte mir ihre Befürchtungen mit. Leider, drei Tage später ging sie fort. Anja wird von mir geliebt und verwöhnt. Ihre jetzige große Freude ist ‚ihr kleines blaues Rad‘, ein richtiges, ganz überholt. Und heute Abend noch haben wir eine lange Spazierfahrt gemacht. Sie spricht oft von ihrer Mutti, aber ohne zu leiden. Sie lebt ganz in dem Augenblick – glücklicherweise – und kann sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter unglücklich sein könnte. Ich grüße Sie herzlich.“
Anja schreibt einen Tag später, am 4. November 1942, eine Karte an ihren Vater, die aber ebenfalls zurückkommt, der Vater war bereits in einem anderen Lager:
„Mein liebes Papilein. Ich habe ein Fahrrad. Es ist blau. Es hat eine Bremse und eine schöne Klingel. Ich kann alleine fahren. Ich habe mein Dreirad bekommen und spiele im Hof. Ich will dir ein schönes Paket machen. Miquette hat meine Puppe kaputt gemacht. Ich umarme dich. Anja Schaul“
Mit Datum vom 14.7.1943 erreicht Hans Schaul schließlich ein Brief von Arthur M. Rewald, dem Vater von Ruth Rewald und Opa von Anja, der inzwischen nach England entkommen konnte. Er teilt ihm folgendes mit:
„… Über das Rote Kreuz bekam ich vor einigen Tagen vom Bürgermeister von Les Rosiers die Nachricht, dass Anja bei bester Gesundheit ist. Es fehlt ihr nichts, sie ist bei der Schulleiterin geblieben. Ich versuchte, sie über das Rote Kreuz hierher nach England zu holen, aber sie empfahlen mir, zur Zeit nichts zu tun und ihr auch nicht zu schreiben, um das Kind nicht zu gefährden. So bin ich verpflichtet, stillzuhalten und möchte auch Dir ganz ernsthaft raten, ihr nicht zu schreiben, wenn das auch hart sein mag, seitdem Du weißt, wie es um Anja steht. Ich bin zuversichtlich, daß die Zeit nicht fern ist, in der wir bessere Mittel und Wege haben werden, um mit dem Kind, ihrer Pflegemutter und dem Bürgermeister Verbindung aufzunehmen.“ Er berichtet über seine Bemühungen, etwas über Ruth Rewald zu erfahren: „Von oder über Ruth habe ich mehr als ein Jahr nichts gehört, trotzdem sich meine Rot-Kreuz-Recherchen gleichzeitig auf Anja und Ruth bezogen. Nur über Anja hörte ich etwas. Auch der Bürgermeister erwähnte Ruth mit keinem Wort. Wenn das bedeutet, dass sie sich irgendwo verborgen hält und deshalb niemand wünscht, auch nur ihren Namen zu erwähnen, um sie nicht zu gefährden …, ich weiß es nicht. Aber ich klammere mich an diese Hoffnung, die einzige, die ich habe …“
16. Mai 1937 wurde Anja Schaul im Pariser Exil geboren und am Morgen des 25. Januar 1944 wird sie aus der Schule in Les Rosiers-sur-Loire geholt. Wie viele der jüdischen Kinder wird sie ins Lager Drancy gebracht. Auf der „Transportliste in zweifacher Ausfertigung“ wird sie zur Nummer 1201. Als Beruf ist angegeben: Schülerin. Am 10.Februar 1944 rollt sie in einem Viehwaggon eingesperrt nach Auschwitz in den Tod.
Bild 1: Buchtitel Ruth Rewald – Quelle: amazon.com · Bild 2: Handschrift von Anja Schaul – Quelle: holocaust-history.org
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